Der Traum des Wolfs
hier. Die Seanchaner herrschen besser als ich.«
»Rand, du bist dafür nicht verantwortlich«, sagte Min. »Du warst nicht hier, um …«
Sein Schmerz verstärkte sich, und sie begriff, dass sie genau das Falsche gesagt hatte. »Ja«, erwiderte er leise, »ich war nicht hier. Ich ließ diese Stadt im Stich, als ich sah, dass sie nicht das gewünschte Werkzeug war. Ich vergaß, Min. Ich vergaß, worum es hier eigentlich ging. Tarn hatte so recht. Ein Mann muss wissen, aus welchem Grund er kämpft.«
Rand hatte seinen Vater zusammen mit einem Asha’man zu den Zwei Flüssen geschickt, damit man sich dort auf die Letzte Schlacht vorbereitete.
Rand stolperte und sah plötzlich sehr müde aus. Er setzte sich auf eine Kiste, die dort herumstand. Ein kupferfarbener Straßenjunge betrachtete ihn aufmerksam aus einem Hauseingang. Gegenüber bog eine Straße von dieser Hauptdurchgangsstraße ab. Sie wurde nicht von Leuten verstopft; kräftig aussehende Männer mit Keulen standen an der Einmündung.
»Sie zerfallen zu Banden«, sagte Rand leise und mit gesenkten Schultern. »Die Reichen bezahlen die Starken, damit die sie beschützen und jeden verjagen, der auf ihren Reichtum aus ist. Aber bei dem Reichtum handelt es sich nicht länger um Gold oder Schmuck. Jetzt sind es Lebensmittel.«
Sie ließ sich neben ihm auf ein Knie nieder. »Rand. Du kannst nicht…«
»Ich weiß, ich muss weitergehen, aber es schmerzt, die Dinge zu wissen, die ich tat. Indem ich mich zu Stahl machte, wies ich all diese Gefühle von mir. Indem ich zuließ, wieder Mitleid zu empfinden, wieder zu lachen, musste ich mich auch meinem Versagen öffnen.«
»Rand, ich sehe Sonnenlicht um dich herum.«
Er schaute zu ihr hoch, dann weiter zum Himmel.
»Nicht dieses Sonnenlicht«, flüsterte Min. »Eine Sicht. Ich sehe dunkle Wolken, die von der Wärme des Sonnenlichts verdrängt werden. Ich sehe dich, mit einem strahlend weißen Schwert in der Hand, das du gegen eine schwarze Klinge führst, die von einer gesichtslosen Dunkelheit gehalten wird. Ich sehe Bäume, die wieder grün sind und Früchte tragen. Ich sehe ein Feld mit gesunden und vollen Ähren.« Sie zögerte. »Ich sehe die Zwei Flüsse, Rand. Ich sehe dort ein Gasthaus mit dem Zeichen des Drachenzahns auf der Tür. Aber es ist nicht länger ein Symbol der Dunkelheit oder des Hasses. Es ist ein Zeichen des Sieges und der Hoffnung.«
Er blickte sie an.
Min sah etwas in ihrem Augenwinkel. Sie wandte sich den auf der Straße sitzenden Menschen zu und keuchte auf. Jeder einzelne von ihnen wies ein Bild über dem Kopf auf. Es war erstaunlich, so viele Sichten gleichzeitig zu sehen, die über den Köpfen von Kranken, Schwachen und Verlassenen aufblitzten.
»Ich sehe eine silberne Axt über dem Kopf dieses Mannes«, sagte sie und zeigte auf einen bärtigen Bettler, der mit auf die Brust gesunkenem Kinn an einer Hauswand saß. »In der Letzten Schlacht wird er ein Anführer sein. Diese Frau da, die sich im Schatten herumdrückt, wird in der Weißen Burg ausgebildet und zur Aes Sedai werden. Ich sehe die Flamme von Tar Valon neben ihr, und ich weiß, was das bedeutet. Der Mann da drüben, der wie ein Straßenräuber aussieht? Er wird ihr Leben retten. Ich weiß, dass er nicht danach aussieht, aber er wird kämpfen. Das werden sie alle. Ich kann es sehen!«
Sie schaute Rand an und nahm seine Hand. »Du wirst stark sein, Rand. Du wirst das vollbringen. Du wirst sie anführen. Ich weiß es.«
»Das hast du gesehen?«, fragte er. »In einer Sicht?« Sie schüttelte den Kopf. »Das war nicht nötig. Ich glaube an dich.«
»Um ein Haar hätte ich dich getötet«, flüsterte er. »Als du mich ansahst, sahst du einen Mörder. Du fühltest meine Hand an deiner Kehle.«
»Was? Natürlich nicht! Rand, sieh mir in die Augen. Du kannst mich durch den Bund spüren. Fühlst du da auch nur den Hauch von Furcht?«
Er erwiderte ihren Blick mit Augen, die so tief und unergründlich waren. Sie wich nicht zurück. Sie konnte dem Blick dieses Schafhirten standhalten.
Er setzte sich aufrechter hin. »Oh, Min. Was würde ich ohne dich tun?«
Sie schnaubte. »Könige und Aielhäuptlinge folgen dir. Aes Sedai, Asha’man und Ta’veren. Du kämst schon zurecht, da bin ich mir sicher.«
»Nein«, sagte Rand. »Du bist wichtiger als sie alle zusammen. Du erinnerst mich daran, wer ich bin. Davon abgesehen denkst du viel klarer als die meisten meiner sogenannten Ratgeber. Wenn du wolltest, könntest du Königin
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