Der Traum
brachten sie vor Entzücken außer sich, entrückten sie der Wirklichkeit. Aber andere, sanftere Stellen aus der »Legenda aurea« ergötzten sie überdies, die Tiere zum Beispiel, die ganze Arche Noah und alles, was darin kreucht und fleucht. Sie nahm Anteil an den Raben und Adlern, die damit beauftragt sind, die Einsiedler mit Nahrung zu versorgen. Und dann, wie viele schöne Geschichten über die Löwen! Der dienstfertige Löwe, der das Grab für Maria Aegyptiaca gräbt; der flammende Löwe, der die Tür der verrufenen Häuser bewacht, als die Prokonsuln die Jungfrauen dorthin bringen lassen; und dann noch der Löwe des Hieronymus43, dem man einen Esel anvertraut hat, der ihm gestohlen wird und den er wieder zurückbringt. Da war auch noch der Wolf, der, von Reue gepackt, ein gestohlenes Schwein zurückbringt. Bernhard tut die Fliegen in den Bann, und sie fallen tot hernieder. Remigius44 und Blasius45 speisen die Vögel an ihrem Tische, segnen sie und geben ihnen die Gesundheit wieder. Franciscus46 predigt ihnen »voll Taubeneinfalt«, ermahnt sie, Gott zu lieben. »Neben seiner Zelle saß ein Heimlein auf einem Feigenbaum und sang; da rief Sanct Franciscus ihm und reckte die Hand nach ihm aus und sprach: ›Komm zu mir, meine Schwester Cicada‹; da war sie ihm gehorsam und flog auf seine Hand. Da sprach er: ›Sing, meine Schwester Cicada, und lobe deinen Herrn.‹ Da sang sie alsbald und ging nicht eher von ihm, als bis er ihr Urlaub gab.« Diese Stelle war für Angélique eine ständige Quelle der Erbauung und gab ihr den Gedanken ein, die Schwalben herbeizurufen, und sie war neugierig, ob sie wohl kommen würden. Dann standen darin Geschichten, die sie nicht lesen konnte, ohne krank zu werden vor Lachen. Christophorus47, der gutmütige Riese, der das Jesuskind trug, erheiterte sie bis zu Tränen. Sie erstickte fast vor Lachen bei dem Mißgeschick, das dem Statthalter mit den drei Mägden der Anastasia widerfährt, als er sie in der Küche aufsucht und die Pfannen und Kessel küßt in dem Glauben, er umarme die Mägde. »Er ging hinaus, ganz schwarz und ungestalt und mit zerrissenen Kleidern. Und als die Diener, die draußen seiner warteten, ihn also verunreinet sahen, wähnten sie, es sei der Teufel, und schlugen ihn mit Stecken und flohen von dannen und ließen ihn ganz allein.« Doch ein unbezähmbares Lachen überkam sie, wenn jemand auf den Teufel einschlug, namentlich Juliana, die ihm, als sie im Kerker von ihm in Versuchung geführt wird, mit der Kette, damit sie selber gebunden war, eine ganz gehörige Tracht Prügel verabfolgte. »Nun befahl der Richter, daß man Juliana aus dem Kerker führe. Da ging sie heraus und zog den Teufel gebunden nach sich. Der flehte sie an und sprach: ›Juliana, Herrin, ich bitte dich, laß mich nicht so gar zu Spotte werden vor den Menschen, denn ich mag sonst hinfort keine Gewalt mehr haben über irgendeinen.‹ Sie aber zog den Teufel nach sich und zog ihn über den ganzen Markt und warf ihn zuletzt in eine Latrine.«
Oder Angélique erzählte auch den Huberts beim Sticken Legenden, die sie interessanter fand als Märchen. Sie hatte sie so viele Male gelesen, daß sie sie auswendig kannte: Die Legende von den sieben Schläfern, die, als sie der Verfolgung entfliehen wollten, in einer Höhle eingemauert wurden und dort dreihundertzweiundsiebzig Jahre schliefen und deren Erwachen den Kaiser Theodosius48 über die Maßen verwunderte; die Legende vom heiligen Clemens49, endlose, unvorhergesehene und rührende Abenteuer, eine ganze Familie, Vater, Mutter und drei Söhne, durch große Unglücksfälle getrennt und schließlich durch die schönsten Wunder wieder vereint. Ihre Tränen flossen, sie träumte nachts davon, sie lebte nur noch in dieser tragischen und triumphierenden Welt des Wunders, im übernatürlichen Reich aller Tugenden, die mit allen Freuden belohnt werden.
Als Angélique zur Erstkommunion ging, schien es ihr, als schritte sie wie die Heiligen zwei Ellen über dem Erdboden dahin. Sie war eine junge Christin der Urkirche, sie befahl sich in Gottes Hände, da sie aus dem Buch gelernt hatte, daß sie nicht ohne die Gnade erlöst werden könne. Die Huberts befolgten schlecht und recht brav die Kirchengebote: sonntags gingen sie zur Messe und an den Hochfesten zur Kommunion; und das mit dem ruhigen Glauben der Demütigen, ein wenig auch aus Tradition und um ihrer Kundschaft willen, da die Meßgewandmacher von Generation zu Generation in der Osterzeit stets zur
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