Der Traum
nie ein Weib erkannt; ihm dienen die Engel, und Sonne und Mond bewundern seine Schöne; sein Gut wird nie gemindert, sein Reichtum nimmt nicht ab, sein Atem macht die Toten lebendig.« Und als Aspasius gebietet, daß man »ihr ein Schwert in die Kehle« stoße, steigt sie empor zum Paradies, sich mit »ihrem weißen und roten Bräutigam« zu vereinen. Seit einigen Monaten vor allem flehte Angélique sie an in unruhigen Stunden, wenn das Blut ihr heiß in den Schläfen pochte; und sogleich schien es ihr, als sei sie erfrischt. Sie sah sie fortwährend um sich, sie war verzweifelt, daß sie oft Dinge tat und dachte, die Agnes, so fühlte sie, betrüben mußten. Als sie sich eines Abends sie Hände küßte, woran sie bisweilen noch Vergnügen fand, wurde sie plötzlich hochrot und wandte sich, obgleich sie allein war, verwirrt um, da ihr bewußt geworden, daß die Heilige sie gesehen hatte. Agnes war die Hüterin ihres Leibes.
So war Angélique mit fünfzehn Jahren ein anbetungswürdiges Mädchen. Gewiß hatten weder das klösterliche und arbeitsame Leben noch der sanfte Schatten der Kathedrale, noch die »Legenda aurea« mit den schönen heiligen Frauen einen Engel, ein Geschöpf absoluter Vollkommenheit aus ihr gemacht. Immer noch rissen hitzige Aufwallungen sie hin, äußerten sich durch unvermutete Ausbrüche Fehler in Seelenwinkeln, die zuzumauern man unterlassen hatte. Doch sie zeigte sich dann so beschämt, sie hätte so gerne vollkommen sein wollen! Und sie war so menschenfreundlich, so lebendig, so unwissend und rein im Grunde! Als sie von einem der großen Ausflüge zurückkehrten, die die Huberts sich zweimal im Jahr, am Pfingstmontag und zu Mariä Himmelfahrt, erlaubten, hatte sie einen wilden Rosenstock ausgerissen und ihn dann zu ihrem Vergnügen in dem schmalen Garten wieder eingepflanzt. Sie beschnitt und begoß ihn; er wuchs dort noch ebenmäßiger weiter, er brachte dort größere wilde Rosen mit würzigem Duft hervor; danach hielt sie Ausschau mit ihrer gewohnten Leidenschaftlichkeit, lehnte es jedoch ab, ihn zu veredeln, weil sie sehen wollte, ob er nicht durch ein Wunder echte Rosen tragen würde. Sie tanzte um ihn herum, sie sang immer wieder mit entzücktem Ausdruck: »Das bin ich! Das bin ich!« Und wenn man sie mit ihrem an der Landstraße aufgelesenen Rosenstock neckte, lachte sie selber darüber, wurde zwar ein wenig blaß und hatte Tränen an den Wimpern. Ihre veilchenfarbenen Augen waren noch sanfter geworden, ihr Mund war leicht geöffnet und ließ die kleinen weißen Zähne in dem länglichen Oval des Gesichtes sehen, das die blonden Haare, die wie Licht so leicht waren, mit goldenem Schimmer umgaben. Sie war gewachsen, ohne schmächtig zu werden, Hals und Schultern waren immer noch von stolzer Anmut, die Brust rund, die Taille biegsam; und heiter war sie, und gesund, eine seltene Schönheit von unendlichem Liebreiz, deren unschuldiges Fleisch und deren keusche Seele in Blüte standen.
Die Zuneigung der Huberts zu ihr wurde mit jedem Tag stärker. Es war ihnen beiden der Gedanke gekommen, sie zu adoptieren. Allein sie sagten nichts davon, aus Furcht, ihren ewigen Schmerz wieder aufzuwecken. Und so sank die Frau an dem Morgen, da der Gatte sich zu diesem Schritt entschloß, in ihrem Schlafzimmer auf einen Stuhl und brach in Schluchzen aus. Dieses Kind adoptieren, hieß das nicht darauf verzichten, jemals ein eigenes zu haben? Gewiß, man durfte in ihrem Alter kaum noch damit rechnen; und sie willigte ein, besiegt von dem guten Gedanken, die Kleine zu ihrer Tochter zu machen. Als sie zu Angélique davon sprachen, fiel sie ihnen um den Hals, erstickte fast vor Tränen. Es war beschlossene Sache, sie würde bei ihnen bleiben, in diesem Haus, das jetzt ganz von ihr erfüllt war, verjüngt durch ihre Jugend, frohgestimmt durch ihr Lachen. Doch schon beim ersten Schritt versetzte sie ein Hindernis in Bestürzung. Der Friedensrichter, Herr Grandsire, bei dem sie sich erkundigt hatten, erklärte ihnen, daß eine Adoptierung völlig unmöglich sei, weil das Gesetz verlangt, daß der zu Adoptierende großjährig ist. Als er ihren Kummer sah, riet er ihnen dann zu dem Ausweg, die amtliche Vormundschaft zu übernehmen: jede Person über fünfzig Jahre kann durch einen gesetzlichen Akt einen Minderjährigen unter fünfzehn Jahren an sich binden, indem er sein amtlicher Vormund wird. Die Altersvorschriften waren erfüllt, sie gingen mit Freuden darauf ein; und es wurde sogar vereinbart, daß sie ihr
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