Der Traum
Mündel dann testamentarisch adoptieren würden, wie das Gesetz es gestattet. Herr Grandsire nahm sich des Antrags des Ehemannes und der Bevollmächtigung der Ehefrau an und setzte sich dann mit dem Leiter des Fürsorgeamtes, dem Vormund aller Fürsorgezöglinge, in Verbindung, dessen Zustimmung man erlangen mußte. Ein Termin fand statt, schließlich wurden die Papiere in Paris bei dem eigens dafür bezeichneten Friedensrichter hinterlegt. Und man wartete nur noch auf das Protokoll, das die Erteilung der amtlichen Vormundschaft bestätigte, als die Huberts nachträglich Bedenken bekamen.
Hätten sie sich nicht, bevor sie Angélique also adoptierten, bemühen müssen, ihre Familie ausfindig zu machen? Falls die Mutter noch lebte, woher nahmen sie dann das Recht, über die Tochter zu verfügen, ohne völlige Gewißheit darüber zu haben, daß sich wirklich niemand um sie kümmern wollte? Und dann war da im Grunde noch jenes Unbekannte, dieser möglicherweise verderbte Stamm, aus dem das Kind vielleicht hervorging, über den sie sich früher schon Gedanken gemacht hatten und der sie zu dieser Stunde von neuem mit Sorge erfüllte. Sie quälten sich so sehr damit, daß sie nicht mehr schlafen konnten.
Kurz entschlossen reiste Hubert nach Paris. Das war ein aufregendes Ereignis in seinem ruhigen Dasein. Er belog Angélique, er sagte ihr, seine Anwesenheit in Paris sei zur Regelung der Vormundschaft notwendig. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hoffte er alles zu erfahren. Doch in Paris verflossen die Tage, bei jedem Schritt richteten sich neue Hindernisse auf, er verbrachte dort eine Woche, wurde von einem zum anderen geschickt und lief ganz verstört und fast unter Tränen die Straßen ab. Im Fürsorgeamt empfing man ihn zunächst äußerst schroff. Die Vorschrift der Behörde besagt, daß die Kinder bis zu ihrer Volljährigkeit nicht über ihre Herkunft unterrichtet werden. An drei Vormittagen hintereinander schickte man ihn wieder fort. Er mußte hartnäckig bleiben, sein Anliegen in vier Büros auseinandersetzen, sich heiser reden, indem er sich als amtlicher Vormund vorstellte, ehe ein Abteilungsleiter, ein großer Hagerer, sich gnädigst bereit fand, ihn darüber zu unterrichten, daß genaue Unterlagen völlig fehlten. Die Behörde wußte nichts, eine Hebamme hatte das Kind AngéliqueMarie eingeliefert, ohne die Mutter zu nennen. Verzweifelt wollte er schon die Rückreise nach Beaumont antreten, als ein Gedanke ihn ein viertes Mal zu dem Amt zurückführte und ihn um Einsichtnahme in den Geburtsschein bitten ließ, der ja den Namen der Hebamme tragen mußte. Das war wiederum eine schwierige Angelegenheit. Endlich wußte er den Namen, Frau Foucart, und er erfuhr sogar, daß diese Frau im Jahre 1850 in der Rue des DeuxEcus gewohnt hatte.
Da begannen die Laufereien von neuem. Dieses Stück der Rue des DeuxEcus war abgerissen, kein Krämer in den benachbarten Straßen erinnerte sich an Frau Foucart. Hubert sah im Adreßbuch nach: der Name war nicht mehr darin zu finden. Er fand sich damit ab, weitersuchen zu müssen, er las alle Aushängeschilder und ging zu jeder Hebamme in die Wohnung hoch; und damit hatte er Erfolg, er hatte das Glück, an eine alte Frau zu geraten, die gleich losschrie:
Wie! Und ob sie Madame Foucart kennte! Eine so verdienstvolle Person, die soviel Unglück gehabt hätte! Sie wohne Rue Censier, am anderen Ende von Paris.
Er lief dorthin.
Durch die Erfahrung belehrt, hatte er sich vorgenommen, hier diplomatisch vorzugehen. Doch Frau Foucart, eine wuchtig auf kurzen Beinen stehende gewaltige Frau, ließ ihn die Fragen, die er sich vorher zurechtgelegt, nicht in schöner Reihenfolge vor ihr ausbreiten. Sowie er die Vornamen des Kindes und das Datum der Einlieferung bei der Fürsorge verlauten ließ, legte sie von selber los, erzählte sie die ganze Geschichte, entlud sich ihr ganzer Groll in einem Schwall von Worten.
Ach, die Kleine lebte! Na, sie konnte sich schmeicheln, ein tolles Luder zur Mutter zu haben! Ja, Madame Sidonie, wie man sie, seit sie Witwe war, nannte, habe sehr angesehene Verwandte, ein Bruder sei Minister, wie erzählt wurde, was sie jedoch nicht hinderte, die übelsten Geschäfte zu machen! Und sie setzte ihm auseinander, auf welche Weise sie sie kennengelernt hatte, als das liederliche Weibsbild in der Rue SaintHonore einen Handel mit Obst und Öl aus der Provence62 unterhielt, nachdem sie und ihr Mann aus Plassans nach Paris gekommen waren, um ihr Glück zu versuchen.
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