Der Traum
anderen in jedes Loch eingefügt worden waren. Fast hundert Jahre hielt der oben verblichene, unten roststreifige, mit Salpeterflecken übersäte gelbe Anstrich der Wände schon. Alle Jahre sprach man davon, das Zimmer neu streichen zu lassen, ohne sich dazu entschließen zu können, weil man gegen jede Veränderung war.
Hubertine, die vor dem Stickrahmen saß, auf den das Meßgewand gespannt war, hob den Kopf und sagte:
»Du weißt, wenn wir es Sonntag abliefern, habe ich dir einen Korb voll Stiefmütterchenpflanzen für deinen Garten versprochen.«
Fröhlich rief Angélique aus:
»Das stimmt ... Oh, ich werde mich daranmachen! – Aber wo ist denn nur mein Fingerling? Das Handwerkszeug macht sich davon, wenn man nicht mehr arbeitet.« Sie schob den alten elfenbeinernen Fingerling auf das zweite Glied ihres kleinen Fingers, und sie setzte sich auf die andere Seite des Stickrahmens, dem Fenster gegenüber.
Seit Mitte des vorigen Jahrhunderts war nicht eine Veränderung in der Einrichtung der Werkstatt vorgenommen worden. Die Moden wechselten, die Stickereikunst wandelte sich, aber man fand noch immer dort an der Wand befestigt das Klappbrett, die Holzleiste, auf der der Stickrahmen aufliegt, den am anderen Ende ein beweglicher Bock trägt. In den Ecken schliefen altertümliche Handwerkszeuge: eine Goldhaspel mit ihren Zahnrädern und ihren Haspelarmen, um das Gold von den Spulen auf die Bretsche zu wickeln, ohne es zu berühren; ein Handrad, eine Art Winde, die die Fäden zusammendrehte und die man an der Wand befestigte; Tambourierrahmen in allen Größen, überzogen mit ihrem Taft und ihrem Holzreifen, auf denen man mit dem Tambourierhaken stickte. Auf einem Brett war eine alte Sammlung von Lochzangen für die Goldplättchen aufgereiht, und man sah dort auch ein Überbleibsel, einen kupfernen Blaker, den klassischen breiten Leuchter der alten Sticker. In den Ösen eines Halters, der aus einem angenagelten Riemen hergestellt war, hingen Punzen, Klöpfel, Hämmer, Messer zum Ausschneiden des Pergaments, Mennelurds64, Bossierhölzer aus Buchsbaum, um die Fäden zu modellieren, je nachdem, wie man sie verwendet. Unter dem Tisch aus Lindenholz, auf dem zugeschnitten wurde, stand eine große Garnwinde, deren zwei bewegliche Arme aus Weidenholz ein Gebinde roter Wolle spannten. Ketten von Spulen mit lebhaft farbigen Seiden hingen, aufgereiht auf einer Schnur, neben der Truhe. Auf dem Fußboden stand ein Korb mit leeren Spulen. Ein Bindfadenknäuel war soeben von einem Stuhl gefallen und hatte sich dabei entrollt.
»Ach, das schöne Wetter, das schöne Wetter!« begann Angélique wieder. »Da macht es Freude zu leben.«
Und bevor sie sich über ihre Arbeit beugte, verweilte sie noch einen Augenblick sinnend vor dem offenen Fenster, durch das der strahlende Maienmorgen hereindrang. Ein Zipfel Sonnenschein glitt vom First der Kathedrale, frischer Fliederduft stieg vom Garten der Bischofsresidenz auf. Sie lächelte geblendet, von Frühling gebadet. Als sei sie soeben eingeschlummert, fuhr sie dann zusammen und sagte:
»Vater, ich habe kein Gold für den Flachstich.«
Hubert, der die Pause eines Musters für einen Chorrock zu Ende durchstach, holte tief aus der Truhe ein Gebinde, schnitt es auf, faserte die beiden Enden aus, indem er das Gold abkratzte, das die Seide bedeckte; und er brachte das Gebinde in einer Pergamentrolle herbei.
»Das ist alles?«
»Ja, ja.«
Mit einem Blick hatte sie sich vergewissert, daß nichts mehr fehlte: die mit dem verschiedenfarbigen Gold, dem roten, dem grünen und dem blauen Gold bewickelten Bretschen; die Seidenspulen in allen Farbtönen; die Goldplättchen, Kantillen als Glanz oder Kräuselbouillon in dem Materialbehälter, einem Hutdeckel, den man als Schachtel benutzte; die feinen langen Nadeln, die Stahlzangen, die Fingerhüte, die Schere, der Wachsklumpen. All das hüpfte auf dem Stickrahmen, auf dem gespannten Stoff, den ein starkes graues Papier schützte.
Sie hatte eine Nadel mit Gold zum Flachstich eingefädelt. Doch gleich beim ersten Stich riß der Faden, und sie mußte von neuem ausfasern, indem sie ein wenig von dem Gold abkratzte, das sie in die Abfallschachtel warf, die ebenfalls auf dem Stickrahmen umherstand.
»Na endlich!« sagte sie, als sie ihre Nadel durchgestochen hatte.
Es herrschte tiefe Stille. Hubert hatte sich darangemacht, einen Stickrahmen zu bespannen. Er hatte die beiden Leisten auf das Klappbrett und den Bock gelegt, einander genau gegenüber, so
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