Der Traum
daß er die karmesinrote Seide des Chorrockes, den Hubertine soeben an die Gurtstreifen angenäht hatte, fadengerade anbringen konnte. Und er schob die Schienen in die Schlitze der Leisten ein, wo er sie mit Hilfe von vier Pflöcken festmachte. Nachdem er dann rechts und links die seitliche Spannung hergestellt hatte, spannte er fertig, indem er die Pflöcke zurücksteckte. Man hörte ihn mit den Fingerspitzen auf den Stoff klopfen, der wie eine Trommel widerhallte.
Angélique war eine selten gute Stickerin geworden, von einer Geschicklichkeit und einem Geschmack, über welche die Huberts selbst ganz erstaunt waren. Abgesehen von dem, was sie sie gelehrt hatten, brachte sie ihre Leidenschaftlichkeit mit, die den Blumen Leben, den Symbolen Glauben verlieh. Unter ihren Händen belebten sich Seide und Gold, ein mystischer Seelenflug verlieh den unscheinbarsten Ornamenten Schwung, sie gab sich ganz dieser Arbeit hin mit ihrer ständig wachen Einbildungskraft, ihrem Glauben an die Welt des Unsichtbaren. Einige ihrer Stickereien hatten die Diözese Beaumont so sehr in Aufregung versetzt, daß ein Priester, der Archäologe, und ein anderer, der Gemäldeliebhaber war, sie aufsuchten und in Verzückung gerieten vor ihren Madonnen, die sie mit den naiven Gestalten der Primitiven verglichen. Es war die gleiche Aufrichtigkeit, das gleiche Empfinden für das Jenseits, gleichsam beschlossen in einer peinlich genauen Vollkommenheit der Einzelheiten. Sie hatte die Gabe des Zeichnens, ein wahres Wunder, das ihr, ohne daß sie einen Lehrer gehabt hätte, allein durch ihre abendlichen Studien beim Lampenschein oft erlaubte, ihre Muster zu verbessern, von ihnen abzuweichen, ihrer Phantasie nachzugehen und mit der Spitze ihrer Nadel schöpferisch tätig zu sein. Daher auch traten die Huberts, die erklärten, die Beherrschung des Zeichnens sei für eine gute Stickerin notwendig, trotz ihrer langjährigen Tätigkeit in dem Gewerbe hinter sie zurück. In ihrer Bescheidenheit kam es mit ihnen so weit, daß sie nur noch Angéliques Gehilfen waren, sie mit allen Arbeiten an Prunkgewändern betrauten, für die sie ihr zuarbeiteten.
Was für strahlende und gottselige Wunder gingen vom Anfang bis zum Ende des Jahres durch ihre Hände! Sie lebte nur in Seide, Atlas, Samt, in Gold und Silberstoffen. Sie stickte Meßgewänder, Stolen65, Manipel66, Chorröcke, Dalmatiken67, Mitren68, Kirchenfahnen, Vela69 für Kelche und Ziborien. Doch vor allem kehrten die Meßgewänder beständig wieder mit ihren fünf Farben: dem Weiß für die Bekenner und die Jungfrauen, dem Rot für die Apostel und die Märtyrer, dem Schwarz für die Toten und die Fastentage, dem Violett für die unschuldigen Kindlein, dem Grün für alle Feste; und auch dem Gold, das häufig verwandt wurde, da es Weiß, Rot und Grün ersetzen konnte. In der Mitte des Kreuzes waren es immer dieselben Symbole, die Namenszeichen von Jesus und Maria, das von Strahlen umgebene Dreieck, das Lamm, der Pelikan, die Taube, ein Kelch, eine Monstranz, ein blutendes Herz unter Dornen, während auf dem Kreuzesstamm und auf den Kreuzesarmen Verzierungen oder Blumen entlangliefen, die ganze Ornamentik der alten Stilarten, die ganze Flora üppiger Blumen, Anemonen, Tulpen, Päonien, Granatblumen, Hortensien. Es verging keine Jahreszeit, in der sie nicht die symbolischen Ähren und Weintrauben neu entstehen ließ, in Silber auf Schwarz, in Gold auf Rot. Für die sehr kostbaren Meßgewänder nahm sie Gemälde als Vorlage, Köpfe von Heiligen und als zentrales Bild Mariä Verkündigung, die Krippe, den Kalvarienberg. Bald wurden die Goldborten unmittelbar auf den Untergrund gestickt, bald setzte sie die Streifen aus Seide oder Atlas auf Goldbrokat oder Samt. Und diese geheiligten Herrlichkeiten erblühten, erstanden eine nach der anderen unter ihren schmalen Fingern.
Das Meßgewand, an dem Angélique zu diesem Zeitpunkt arbeitete, war ein Meßgewand aus weißem Atlas, dessen Kreuz aus einer Garbe goldener Lilien bestand und mit Rosen in lebhaften Farben aus schattierter Seide durchflochten war. In der Mitte erstrahlte in einem Kranz mattgoldener Rosen sehr reich verziert das Namenszeichen Mariens in rotem und grünem Gold.
Seit einer Stunde, da sie in Flachstich die Blätter der kleinen goldenen Rosen vollendete, hatte nicht ein Wort die Stille gestört. Doch der eingefädelte Faden riß abermals, und als geschickte Arbeiterin fädelte sie ihn unter dem Stickrahmen tastend wieder ein. Als sie dann den Kopf
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