Der Traum
der aus einem Kirchenfenster des fünfzehnten Jahrhunderts herausgelöst zu sein scheint, unten Abraham, David, Salomo, die Jungfrau Maria, oben dann Jesus; und wundervolle Meßgewänder: Christus am Kreuz, das Meßgewand von so großer Schlichtheit, blutüberströmt, mit roter Seide bespritzt auf dem goldenen Tuch, zu seinen Füßen die Jungfrau Maria, die vom heiligen Johannes gestützt wird; schließlich das Meßgewand von Naintré99, auf dem man Maria in Herrlichkeit sitzen sieht, mit Schuhen an den Füßen und das nackte Kind auf dem Schoß. Andere und wieder andere Wunderwerke zogen vorüber, die wegen ihres hohen Alters verehrungswürdig und trotz aller Pracht von einer heutzutage verlorengegangenen Gläubigkeit und Kindlichkeit sind und denen noch der Weihrauchduft und der mystische Schimmer des matten Goldes der Tabernakel anhaftet.
»Ach«, seufzte Angélique, »das ist vorbei mit diesen schönen Dingen! Man kann nicht einmal mehr die Farbtöne treffen.«
Und mit leuchtenden Augen hielt sie in der Arbeit inne, wenn er ihr die Geschichte der großen Stickerinnen und der großen Sticker von einst erzählte, von Simonne de Gaules100, von Colin Jolye101, deren Namen über die Zeiten hinweg fortdauern. Wenn sie dann von neuem die Nadel durch den Stoff zog, war sie ganz verklärt davon und wahrte auf ihrem Antlitz das Strahlen ihrer Künstlerleidenschaft.
Niemals erschien sie ihm schöner, als wenn sie so begeistert, so jungfräulich mit reiner Flamme im Glanz des Goldes und der Seide entbrannte und mit ihrer angespannten Aufmerksamkeit peinlich genaue Arbeit tat und in die feinen Stiche ihre ganze Seele legte. Er hörte auf zu sprechen, er betrachtete sie, bis sie, durch das Schweigen geweckt, das Fieber gewahr wurde, in das er sie stürzte. Sie war dadurch verwirrt wie durch eine Niederlage, dann gewann sie ihre gleichgültige Ruhe wieder, und ihre Stimme klang ärgerlich.
»Na so etwas! Da geraten mir doch meine Seiden schon wieder durcheinander! – Mutter, bewegt Euch doch nicht!«
Hubertine, die sich nicht gerührt hatte, lächelte seelenruhig. Sie hatte sich zunächst über die häufigen Besuche des jungen Mannes beunruhigt und eines Abends beim Zubettgehen mit Hubert darüber gesprochen. Doch dieser junge Mann mißfiel ihnen nicht, er benahm sich weiterhin sehr anständig: warum sollten sie sich Zusammenkünften widersetzen, aus denen Angéliques Glück hervorgehen konnte? Sie ließ also die Dinge ihren Lauf nehmen, die sie mit ihrem besonnenen Wesen überwachte. Im übrigen war ihr selber seit einigen Wochen das Herz schwer, weil alle Liebesmüh ihres Mannes vergeblich blieb. Es war der Monat, in dem sie ihr Kind verloren hatten, und jedes Jahr brachte ihnen zu diesem Zeitpunkt denselben Jammer, dieselben Sehnsüchte wieder, wenn Hubert zitternd zu Hubertines Füßen lag und brennend danach verlangte, ihm möge endlich vergeben sein, wenn sie sich liebevoll und untröstlich ganz hingab und keine Hoffnung mehr hatte, das Schicksal zu beugen. Sie sprachen nicht davon, tauschten vor den Leuten nicht einen Kuß mehr als sonst; doch diese gesteigerte Liebe drang aus der Stille ihres Schlafzimmers heraus, ging hervor aus ihrem ganzen Wesen, aus den unbedeutendsten Gebärden, aus der Art, wie ihre Blicke sich begegneten, eine Sekunde ineinander verweilten.
Eine Woche verfloß, die Arbeit an der Mitra schritt voran. Dieses tägliche Zusammensein hatte eine sanfte große Traulichkeit angenommen.
»Eine sehr hohe Stirn, nicht wahr? Ohne einen Anflug von Augenbrauen.«
»Ja, sehr hoch, und nicht ein Schatten, wie auf den Miniaturen jener Zeit.«
»Reichen Sie mir bitte die weiße Seide herüber.«
»Warten Sie einen Augenblick, ich will sie ausfasern.«
Er half ihr, und diese Arbeit zu zweit wirkte besänftigend auf sie. Sie brachte sie in die Wirklichkeit des Alltags zurück. Ohne daß ein Wort von Liebe gesprochen wurde, selbst ohne daß eine willentliche Berührung ihre Finger einander näher brachte, festigte sich das Band mit jeder Stunde.
»Vater, was machst du denn? Du bist ja gar nicht mehr zu hören.«
Sie drehte sich um und sah, daß der Sticker damit beschäftigt war, eine Bretsche zu füllen, und dabei seine Frau mit zärtlichen Blicken ansah.
»Ich gebe deiner Mutter Gold.«
Und von der Art, wie er die Bretsche brachte, wie Hubertine ihm stumm dankte, von der ständigen Fürsorglichkeit, mit der Hubert sie umgab, ging der warme Hauch einer Liebkosung aus und hüllte Angélique und
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