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Der Traum

Der Traum

Titel: Der Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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mußte, wie es in den Statuten geschrieben steht, ›ein Heiligenbild allein in Lasurstickerei, ein halbes Drittel hoch‹ anfertigen. Du hättest die Prüfung bestanden, Angélique.«
    Und wieder senkte sich Schweigen herab.
    Für die Haare hatte Angélique, abweichend von der Regel, denselben Gedanken gehabt wie Félicien: nämlich nicht Seide zu verwenden, sondern das Gold mit Gold zu überdecken; und sie handhabte geschickt zehn Nadeln mit Gold zum Flachstich in verschiedenen Tönen, vom düsteren Rotgold ersterbender Kohlenglut bis zum blassen gelben Gold herbstlicher Wälder. Vom Hals bis zu den Knöcheln hüllte sich Agnes so in ein Geriesel goldener Haare. Die Flut ging vom Nacken aus, bedeckte die Lenden mit einem dichten Mantel, ergoß sich nach vorn über die Schultern in zwei Wellen, die, unter dem Kinn wieder vereint, bis zu den Füßen hinabflossen. Ein Wundergebilde von Haaren, ein märchenhaftes Vlies mit ungeheuren Locken, ein warmes und lebendiges, von reiner Nacktheit durchduftetes Gewand.
    An jenem Tag konnte Félicien Angélique nur zusehen, wie sie die Locken, dem Fall ihres Geringels folgend, mit Spaltstichen stickte; und er wurde nicht müde, zu sehen, wie die Haare unter ihrer Nadel wuchsen und aufflammten. Die Dichte dieses Haares, das große Erschauern, mit dem sie sich auf einmal entrollten, verwirrten ihn. Hubertine, die gerade Goldplättchen aufnähte und dabei jedesmal den Faden mit einem Stückchen krauser Kantille verdeckte, wandte sich hin und wieder um, umfing ihn mit ihrem ruhigen Blick, wenn sie ein schlecht gearbeitetes Goldplättchen in die Abfallschachtel werfen mußte. Hubert, der die Schienen herausgezogen hatte, um die Kirchenfahne von den Leisten abzutrennen, faltete sie sorgfältig vollends zusammen.
    Und Félicien, dessen Schweigen die Verlegenheit noch zunehmen ließ, begriff schließlich, daß er so vernünftig sein müsse fortzugehen, weil ihm von all den Bemerkungen, die er sich zurechtgelegt hatte, nicht eine einzige wieder einfiel.
    Er erhob sich, er stammelte:
    »Ich komme wieder ... Ich habe die bezaubernde Zeichnung des Kopfes so schlecht wiedergegeben, daß Sie vielleicht meine Hinweise benötigen werden.«
    Ruhig richtete Angélique ihre großen hellen Augen auf die seinen.
    »Nein, nein ... Kommen Sie ruhig wieder, mein Herr, kommen Sie wieder, wenn Sie um die Ausführung in Sorge sind.«
    Er ging fort, glücklich über die Erlaubnis, untröstlich über diese Kälte. Sie liebte ihn nicht, sie würde ihn niemals lieben, das stand fest. Wozu also? Und sowohl am nächsten Tag als auch an den folgenden Tagen ging er wieder in das kühle Haus in der Rue des Orfèvres. Die Stunden, die er nicht dort verbrachte, waren gräßlich, verwüstet von seinem inneren Kampf, zerquält von Ungewißheit. Er kam nur in der Nähe der Stickerin zur Ruhe, er fand sich sogar damit ab, daß er ihr nicht gefiel, war über alles getröstet, wenn sie nur da war. Jeden Morgen kam er, sprach über die Arbeit, setzte sich vor den Stickrahmen, als wäre seine Anwesenheit nötig; und es entzückte ihn, ihr unbewegliches, in die blonde Helligkeit ihres Haares getauchtes feines Profil wiederzusehen, dem flinken Spiel ihrer geschmeidigen kleinen Hände zu folgen, wie sie sich mitten durch die langen Fäden hindurchfanden. Sie war ganz natürlich, sie behandelte ihn jetzt als guten Freund. Und doch fühlte er stets etwas zwischen ihnen, das sie nicht aussprach und um dessentwillen sein Herz sich ängstigte. Sie blickte zuweilen auf mit spöttischer Miene, mit ungeduldigen und fragenden Augen. Wenn sie ihn dann bestürzt werden sah, wurde sie wieder sehr kalt.
    Doch Félicien hatte ein Mittel entdeckt, sie zu begeistern, und davon machte er weidlich Gebrauch. Das war, über ihre Kunst mit ihr zu sprechen, über die alten Meisterwerke der Stickerei, die er gesehen hatte, die in den Schatzkammern der Kathedralen aufbewahrt oder in den Büchern abgebildet waren: prächtige Chorröcke, der Chorrock Karls des Großen95 aus roter Seide mit großen Adlern mit ausgebreiteten Schwingen, der Chorrock von Zion96, den ein ganzes Volk heiliger Gestalten schmückt, eine Dalmatika, die als das schönste bekannte Stück gilt, die Kaiserliche Dalmatika97, auf der die Herrlichkeit Jesu Christi im Himmel und auf Erden gepriesen wird, die Verklärung Christi, das Jüngste Gericht, dessen zahlreiche Gestalten in schattierten Seiden, in Gold und Silber gestickt sind; auch einen Jessebaum98, eine Goldborte auf Atlas,

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