Der Traumhändler
Bühne. Der Meister brach auf, und wir folgten ihm. Die Straße stieg an und führte an drei Häuserblocks vorbei. Wir bogen in die vierte Seitenstraße rechts ein, passierten vier weitere Häuserblocks und nahmen dann die nächste Seitenstraße nach links. Bartholomäus, Dimas und ich schauten uns fragend an. Wohin sollte es gehen?
Nach etwa vierzig Minuten Fußmarsch fragte Dimas, den die Worte des Meisters noch nicht sprachlos gemacht hatten: »Wohin gehen wir?«
Der Meister hielt inne, schaute ihm in die Augen und sagte: »Traumhändler sind wie der Wind: Man hört ihre Stimme, weiß aber nicht, woher sie kommen oder wohin sie gehen. Wichtig ist nicht das Ziel, sondern der Weg.«
Dimas verstand so gut wie nichts, wurde aber nachdenklich und begann, seinen verkümmerten Geist zu üben. Wir setzten unseren Weg fort. Nach weiteren fünfzehn Minuten hielt der Meister kurz an. Vor uns war ein Menschenauflauf zu sehen. Nach kurzem Zögern ging er direkt darauf zu. Wir verlangsamten unsere Schritte, sodass sich zwischen ihm und uns ein Abstand von etwa sechs Metern ergab. Dimas sah mich an und sagte besorgt: »Das sieht aber gar nicht gut aus. Wir sollten uns fernhalten.«
Ich pflichtete ihm bei: »Du hast recht. Ich glaube, der Meister weiß nicht, was er da tut.«
Wie sich herausstellte, waren die Leute zu einer Trauerfeier zusammengekommen, bei der Unbekannte natürlich nicht erwünscht sind und um die sie normalerweise auch einen Bogen machen. Honigschnauze, respektlos, wie er war, wollte aber nicht klein beigeben und provozierte mich: »Super-Ego, komm runter von deiner Wolke! Wir gehen da jetzt rein.«
Ich hatte nicht übel Lust, ihm eine runterzuhauen. Ob er sich beim Meister einschmeicheln wollte oder ob er ihm wirklich mit ganzem Herzen folgte – ich weiß es nicht. Aber da wir der Trauergemeinde schon sehr nah gekommen waren und daher Respekt zeigen mussten, hielt ich meinen Zorn zurück. Die Atmosphäre war schmerzerfüllt. Die Anwesenden beweinten einen Mann, der an einem rasch wuchernden Krebs gestorben war und einen zwölfjährigen Sohn hinterlassen hatte.
Der Ort, an dem der Tote aufgebahrt war, wirkte pompös: umgeben von marmorverzierten Bogen und hell erleuchtet von riesigen Kronleuchtern. Ein wunderschöner Raum für so viel Trauer! Aus Angst davor, an diesem Ort der Stille aufzufallen, wurden wir noch langsamer, sodass sich der Meister schließlich etwa zwölf Meter vor uns befand. Er wandte sich um, bemerkte unsere Anspannung, ging auf seine verunsicherten Schüler zu und fragte: »Welcher ist der nüchternste Ort im großen Irrenhaus unserer Gesellschaft? Sind es die Gerichtssäle? Oder die Zeitungsredaktionen? Etwa die Rednertribünen der Politiker? Oder die Universitäten?«
Ich versuchte noch, Honigschnauze das lose Mundwerk zu stopfen, aber zu spät: »Die Kneipen, Chef!«
Immerhin ruderte er sofort zurück: »War bloß ein Witz!«
Da wir auf seine Frage keine Antwort wussten, führte der Traumhändler nun aus: »Hier ist der nüchternste Ort! Auf Trauerfeiern sehen wir endlich klar. Wir legen Waffen und Schminke ab und entledigen uns unserer Eitelkeiten. Hier sind wir wirklich, was wir sind. Wer hier nicht er selbst sein kann, ist noch kränker, als er es sich je vorstellen könnte. Für den kleinen Kreis derer, die dem Verstorbenen sehr nahestanden, ist die Friedhofskapelle ein Ort der Verzweiflung. Für die große Gruppe der übrigen Gäste ist sie ein Ort der Reflexion. Und für alle ist die Wahrheit grausam: In der Stille des Grabes sind wir keine Doktoren, Intellektuelle, politische Führer oder Stars mehr, sondern einfache Sterbliche.«
Mir kam bei diesen Worten der Gedanke, dass wir auf Trauerfeiern erkennen: Wir sind keine Götter, sondern einfache Menschen. Es sind solche Gelegenheiten, bei denen wir unserem Irrsinn und unserer Feigheit ins Auge sehen. Trauerfeiern sind für die sogenannten »normalen Menschen« eine Art Gruppentherapie.
Hier sagten einige: »Der Arme! Er ist so früh gestorben!« Sie gehörten zu jenen, die sich mit dem Toten identifizieren konnten und sich fragten, ob ihnen das Leben wohl günstiger gesinnt sei. Andere sagten: »Das Leben ist voller Risiko. Und am Ende sterben wir alle.« Das waren jene, denen klar wurde, wie dringend sie entspannen und insgesamt langsamer machen sollten. Wieder andere bemerkten: »Er hat doch so hart gekämpft, und jetzt, da er endlich die Früchte seiner Arbeit genießen wollte, ist er gestorben!« Sie stellten fest,
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