Der Traumhändler
aufgeben dürfen.«
Es waren unglaubliche zwanzig Minuten, erfüllt von tief empfundenen Erinnerungen. Den Leuten fehlten die Worte für die faszinierende emotionale Erfahrung, die die Beziehung zu Marco Aurélio für sie gewesen war. Er war lebendig, zumindest in den Herzen derer, die ihn betrauerten. Da schaute der Meister uns, seine Schüler, an, und sagte scherzhaft, obwohl er es vielleicht auch ernst meinte: »Und wenn ich sterbe, dann verzweifelt nicht! Sprecht von meinen Träumen, meinen unbändigen Sehnsüchten.«
Einige Leute lachten über diesen fremden, aber unterhaltsamen Mann, der sie aus dem Tal der Verzweiflung befreit und auf den Gipfel der Gelassenheit geführt hatte. Unglaublicherweise lächelte sogar der junge Antonio. In dieser vor Ehrbezeugungen duftenden Atmosphäre verkaufte der Meister dem Jungen, der seinen Vater verloren hatte, noch einen weiteren Traum. Seine ungeheure Wirkung auf die Trauergemeinde war wirklich ein soziologisches Phänomen, das zu erleben ich mir nie erträumt hätte.
»Antonio, sieh, was für ein brillanter Mensch dein Vater war, trotz seiner Fehler. Halte deine Tränen nicht zurück und weine, sooft du willst, aber verliere nicht die Hoffnung. Im Gegenteil, ehre ihn, indem du gereift weiterlebst. Ehre ihn, indem du deinen Ängsten begegnest. Ehre ihn durch Großzügigkeit, Kreativität, Herzlichkeit, Ehrlichkeit. Lebe weise. Ich glaube, wenn dein Vater jetzt meine Stimme nutzen könnte, um dir etwas zu sagen, dann würde er dich zum Leben ermutigen und laut rufen: ›Mein Sohn, schreite voran! Hab keine Angst vor dem Weg, sondern davor, ihn nicht zu gehen!‹«
Antonio war zutiefst erleichtert. Diese Worte waren genau das, was er brauchte. Er würde noch viel weinen, die Sehnsucht würde unbarmherzig sein Herz umklammern, aber er würde in seinem Leben hinter Einsamkeit und Angst Kommas statt Punkte setzen können. Sein Leben würde neue Formen annehmen.
Der Traumhändler machte sich daran, aufzubrechen, nicht jedoch ohne seine Zuhörer mit abschließenden Fragen sprachlos zu machen, denselben, mit denen er mich auf dem Dach des Alpha-Gebäudes getroffen hatte: »Sind wir etwa nichts als lebende Atome, die zerfallen, um nie wieder das zu sein, was sie waren? Was bedeutet es, zu existieren oder nicht zu existieren? Welcher Sterbliche weiß das schon? Wer hat die Innereien des Todes seziert, um seine Essenz freizulegen? Ist der Tod Ende oder Anfang?«
Euphorisch bedrängten mich die Leute und fragten: »Wer ist das? Woher kommt dieser Mann?« Was sollte ich antworten? Ich wusste es ja auch nicht. Daraufhin richteten sie die Frage leider an Bartholomäus, der es bekannterweise liebte, Reden zu schwingen über Dinge, von denen er keine Ahnung hatte. Mit stolzgeschwellter Brust antwortete er: »Wer mein Chef ist? Er ist aus einer anderen Welt. Sollten Sie etwas benötigen – ich bin sein Berater für internationale Angelegenheiten.« Dimas, unser Neuzugang, war völlig frappiert von dem, was er gehört hatte, und antwortete ehrlich: »Ich weiß nicht, wer er ist. Ich weiß nur, dass er zwar rumläuft wie ein Landstreicher, aber massenhaft Kohle zu haben scheint.«
Sofia, die Mutter von Antonio, war genauso wie ich für die Worte des Meisters zutiefst dankbar und platzte vor Neugier. Als sie sah, wie er nun ohne Weiteres einfach gehen wollte, fragte sie ihn: »Wer sind Sie? Welche Religion verkünden Sie? Wo werden Ihnen diese Lehren zuteil?«
Er blickte sie an und antwortete seelenruhig: »Ich bin nicht religiös und weder Theologe noch Philosoph. Ich bin ein Wanderer, der zu verstehen versucht, wer er ist. Ich bin ein Wanderer, der an Gott einmal zweifelte, aber nach der Durchquerung einer großen Wüste entdeckt hat, dass ER der Schöpfer der Existenz ist.«
Diese Aussagen brachten mich wieder zum Grübeln. Ich wusste nicht, dass der Meister Atheist gewesen war wie ich auch. Aber irgendetwas hatte ihn dazu veranlasst, seine Gesinnung zu ändern. Seine Beziehung zu Gott verwirrte mich – sie war weder religiös noch traditionell noch auf Selbstmitleid gegründet, sondern wurzelte in einer unverständlichen Freundschaft. Wer war er also? Welche Wüste hatte er durchquert? Hatte er etwa mehr Tränen vergossen als die Mitglieder dieser Trauergemeinde? Wo hatte er gelebt, wo war er geboren? Bevor weitere Fragen aus den Tiefen meines Geistes hervorsprudelten, entfernte er sich langsam.
Sofia streckte ihm die Hände entgegen und dankte ihm wortlos. Antonio konnte sich
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