Der Traumhändler
Machtbedürfnis werdet ihr bei ihnen nicht finden. Ich rufe euch nicht auf, mir zu folgen, damit ihr große Helden werdet und eure Taten in die Annalen der Geschichte eingehen, sondern auf dass ihr wie kleine Schwalben anonym über die Gesellschaft hinwegsegelt, Unbekannte liebt und für sie tut, was euch möglich ist. Seid eurer Flügel würdig. Die großen Bedeutungen werden in der Bedeutungslosigkeit geschaffen und die großen Taten in der Unscheinbarkeit getan.«
Das Gleichnis hatte mich tief bewegt und gleichzeitig auch verletzt. Ich musste zugeben, dass ich mich in vielen Augenblicken meines Lebens wie eine Hyäne oder ein Geier verhalten hatte. Jetzt musste ich lernen, wie eine unbedeutende, aber mutige Schwalbe zu sein.
Inseln geistiger Klarheit
im Irrenhaus der Gesellschaft
D ie sogenannten »Normalbürger« stehen immer auf dieselbe Weise auf, beklagen sich immer auf dieselbe Weise, ärgern sich immer auf dieselbe Weise. Sie fluchen immer mit denselben Worten, begrüßen ihre Liebsten immer gleich, geben immer dieselben Antworten auf dieselben Fragen. Sie zeigen immer dasselbe Temperament, ob zu Hause oder bei der Arbeit, und dieselben Reaktionen auf immer gleiche Umstände. Sie beschenken sich immer zu denselben Anlässen. Sie leben in einer aufreibenden und vorhersehbaren Routine, die Unzufriedenheit, Bedrückung, Leere und Überdruss gebiert.
Das System hat die Fantasie der Menschen ausgehöhlt und ihre Kreativität zersetzt. Nur selten staunen sie, nur selten beschenken sie sich ohne offensichtlichen Anlass, nur selten reagieren sie in spannungsgeladenen Situationen anders als erwartet. Nur selten befreien sie ihren Geist, um gesellschaftliche Phänomene aus neuen Perspektiven zu betrachten. Sie sind gefangen und wissen es nicht.
»Normale« Eltern werden von ihren Kindern unterbrochen, wenn sie sie zurechtweisen oder ihnen einen Rat geben. Die Kinder können die immer gleichen Argumente nicht mehr ertragen und sagen: »Das weiß ich doch schon …« Und sie wissen es wirklich. Die »Normalbürger« können nicht bezaubern. Sie sind nicht in der Lage, von ihren Erfahrungen zu erzählen und damit die Gedanken ihrer Zuhörer anzuregen.
Für meine Studenten war ich immer sehr vorhersehbar gewesen, aber das verstand ich erst an der Seite des Traumhändlers. Ich unterrichtete immer im gleichen Tonfall, kritisierte und tadelte immer auf dieselbe Weise. Ich veränderte zwar Verben und Substantive, aber nicht Form und Inhalt. Die Studenten hatten die Nase voll von einem Dozenten, der eher einer ägyptischen Mumie glich als einem vielseitigen menschlichen Wesen. Sie ertrugen es nicht mehr, zu hören, dass sie im Leben unterliegen würden, wenn sie sich nicht anstrengten.
Der Traumhändler dagegen verkaufte ununterbrochen den Traum der Verzauberung. Wie schafft es ein äußerlich derart unattraktiver Mensch, so zu fesseln? Wie gelingt es jemandem ohne pädagogische Bildung, unsere Fantasie zum Sprudeln zu bringen? Ihn zu begleiten war eine ständige Aufforderung zu erfinderischem Denken. Wir segelten ohne vorgegebenen Kurs, und er betrachtete die gewöhnlichsten Situationen aus völlig neuen Perspektiven. Wir wussten die Antwort nicht schon im Voraus. Aber er wusste im Grunde sehr gut, was und wohin er wollte: Er schulte uns darin, unvorstellbare Freiheit zu erlangen. Jeder Tag hielt vielerlei Überraschungen bereit, von denen einige überaus angenehm, andere dagegen absolut verwirrend waren.
Am nächsten Morgen erhob sich der Meister, nachdem er eine Weile schweigend über seine Sorgen sinniert hatte, sog mehrmals die abgasverpestete Luft der Großstadt in sich ein und dankte Gott auf ungewöhnliche Weise: »Gott, Du bist in jedem Winkel der Zeit, unendlich fern und unendlich nah, und ich weiß, dass Deine Augen mich sehen. Erlaube mir, zu verstehen, was Du fühlst. Hab Dank für eine weitere Aufführung in dieser überraschenden Existenz.«
Honigschnauze wurde hellwach und rief begeistert: »Was für eine Aufführung sehen wir uns denn an, Chef?«
Der Traumhändler reagierte erstaunt: »Aufführung? Jeder Tag ist eine Aufführung, jeder Tag ist eine Sensation. Nur der, den die Langeweile niedergestreckt hat, bemerkt das nicht. Drama und Komödie finden in unserem Kopf statt. Man muss sie nur wecken.«
Bartholomäus benötigte den Alkoholrausch, um sich von seiner existenziellen Angst und seiner Langeweile zu befreien. Nun entdeckten sowohl er als auch Dimas und ich eine andere Welt, eine andere
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