Der Traumhändler
dass das Leben vorüberzieht wie der Schatten einer Wolke, derweil sie ihre Gesundheit für die Anhäufung eines Vermögens ruinierten, das am Ende nur ihre Erben genießen würden, und ebendeshalb müssten sie ihren ungesunden Lebensstil ändern.
Auf Beerdigungen kaufen die Leute verzweifelt Träume, die von der Dampfwalze des Systems jedoch binnen weniger Stunden oder Tage wieder plattgemacht werden, sodass alles wieder in den »Normalzustand« zurückkehrt. Die meisten verstehen nicht, dass Träume nur dann andauern, wenn sie mit feinem Faden in die geheimen Winkel des Geistes eingewebt werden. Ich zum Beispiel war im Sumpf des »Immer-weiter-wie-Bisher« steckengeblieben. Dabei war das Elend der anderen für mich wie ein Film oder eine Fiktion, die zwar versuchte, in meiner Psyche Wurzeln zu schlagen, jedoch nicht auf fruchtbaren Boden traf.
»Erwartet keine Blumen dort, wo kein Same vergangen ist. Sorgt euch nicht, und lasst uns zu den Trauernden stoßen!«, sagte der Meister und lächelte.
Er hatte nichts weiter dazu zu sagen, aber das Brodeln in unserem Innern war durch diese Worte nicht weniger geworden. Der Tod ist verstörend, doch das Leben auch. Ersterer lässt den menschlichen Atem verlöschen, Letzteres kann ihn ersticken. Was wollte der Meister in einer Situation sagen, in der es keine richtigen Worte gibt? In der alles Reden ins Leere läuft? Was wollte er sagen an einem Ort, an dem die Leute nicht zuhören, sondern angesichts des schmerzlichen Verlusts nur den bitteren Kelch ihres Leids an die Lippen setzen wollen? Welche Worte würden sie da schon erleichtern – und dann auch noch aus dem Munde eines Fremden?
Wir wussten, dass der Meister sich nicht wie ein weiterer Trauergast verhalten würde. Das war das Problem. Wir wussten, dass er nicht schweigen würde. Und das war erst recht ein Problem, und zwar ein großes …
Eine feierliche Ehrung
I ch selbst hatte ein solches Drama durchlitten, als ich meine Mutter verlor. Keine Beileidsbekundung hatte mich trösten können, erst recht nicht die billigen Ratschläge. Jedes Wort des Zuspruchs war an den Stahlplatten um mein Herz abgeprallt. Ich hätte schweigende Umarmungen oder ein paar gemeinsam vergossene Tränen vorgezogen.
Der Meister bahnte sich seinen Weg durch die Menge, und wir folgten ihm. Je näher wir dem Sarg kamen, desto schmerzerfüllter waren die Gesichter der Umstehenden. Schließlich sahen wir den aufgebahrten Verstorbenen: ein etwa vierzigjähriger Mann mit schwarzem, schütterem Haar und hageren, gezeichneten Gesichtszügen.
Die Witwe am Sarg schien untröstlich. Auch den nahen Verwandten und Freunden liefen Tränen über das Gesicht. Der Sohn des Verstorbenen war völlig aufgelöst. Ich sah mich selbst in ihm, sodass sein Schmerz mir viel näherging als meinen Gefährten. Sein junges Leben hatte noch kaum richtig begonnen und war gleich von einem solchen Verlust getroffen worden! Auch ich hatte mein Leben noch gar nicht verstanden, als mein Vater dem seinen ein Ende setzte und meine Mutter kurz darauf ebenfalls verstarb. Mein Tischgenosse war die Einsamkeit gewesen, und die Nächte hatte ich in meiner eigenen, verschlossenen Welt verbracht, voller Fragen, die nie beantwortet wurden. Damals dachte ich, ich wäre Gott einfach egal. Als Jugendlicher empfand ich Ihm gegenüber nichts als Bitterkeit.
Und als ich schließlich erwachsen war, war Er zu einer Fata Morgana und ich zum Atheisten und hoffnungslosen Pessimisten geworden. Als ich die innere Leere dieses Jungen spürte, konnte ich die Tränen nicht zurückhalten.
Auch der Meister sah seine Verzweiflung, umarmte ihn und fragte nach seinem Namen und dem seines Vaters. Dann blickte er auf die Trauernden und richtete zu unserem Erschrecken einen Satz an sie, der ihnen den Boden unter den Füßen wegzog und geeignet war, einen Tumult auszulösen.
»Warum seid ihr so verzweifelt? Marco Aurélio ist nicht tot!«
Bartholomäus, Dimas und ich gingen sofort auf Abstand zum Meister. Wir wollten lieber nicht als seine Schüler erkannt werden.
Die Trauergäste reagierten unterschiedlich auf den gewagten Vorstoß des Meisters. Einige wechselten von den Tränen zu verhaltenem Spott und lachten den Verrückten hinter vorgehaltener Hand aus. Andere reagierten aber auch neugierig. Sie dachten, der Meister wäre ein exzentrischer spiritueller Führer, der die Totenrede halten sollte. Und es gab jene, die den Auftritt des Meisters bei ihrer privaten Feier als Respektlosigkeit empfanden
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