Der Traumhändler
aus dem Kerker meiner Psyche, und ich wurde hart, unnachgiebig und allzu anspruchsvoll. Nun wurde mir klar, dass man die wahre Natur eines Menschen erst dann erkennt, wenn er über Macht und Geld verfügt, ganz unabhängig davon, ob seine Stimme sanft, seine Gesten freundlich und seine Kleidung einfach ist.
Ich wunderte mich über die Sicherheit, mit der der Traumhändler über diese Dinge sprach. Er sah aus wie ein Hausierer, hatte keine Papiere und erst recht keine Kontonummer, noch nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Doch wäre er ohne eigene Erfahrung mit der Macht wirklich in der Lage, derart tiefe Einsichten weiterzugeben?
Unterdessen teilten sich bei den Vertretern der verschiedenen Religionen die Meinungen über den Meister. Einige schätzten seine Worte sehr, während andere seinen Erfolg äußerst beunruhigend fanden. Gott war schließlich ihr Eigentum! Immerhin waren sie die Theologen, die Sachverständigen auf dem Gebiet des Heiligen! Einem Zerlumpten, der am Rande der Gesellschaft lebte und unter Brücken schlief, fehlte schlicht die Qualifikation, um über Gott zu sprechen. So gab es tatsächlich Fundamentalisten, die mutmaßten: »Vielleicht ist er ja ein Prophet des Bösen! Vielleicht ist er der seit Jahrhunderten angekündigte Antichrist!« Jedenfalls wurde der Meister zu einer emblematischen Figur. Er wollte weiterhin unbemerkt durch die Straßen ziehen, konnte sich aber nicht mehr verstecken.
Es gab sogar Passanten, die ihn um ein Autogramm baten. Seine Reaktion darauf war überraschend: »Wie kann ich jemandem, der genauso wichtig oder wichtiger ist als ich, ein Autogramm geben? Auch in Jahrzehnten würde ich nur einen Bruchteil dessen kennenlernen können, was Sie ausmacht, und nur kleine Bruchstücke Ihrer Intelligenz und der Struktur Ihres Gedankengebäudes erfassen. Ich bin es, der die Ehre hat, Ihnen zu begegnen! Bitte, geben Sie mir ein Autogramm!«
Verblüfft und nachdenklich gingen die Leute von dannen. Einige kauften ihm den Traum ab, dass die Menschen nicht entweder berühmt oder namenlos sind, sondern komplexe Persönlichkeiten mit individueller Aufgabe und eigenem Platz in der Gesellschaft.
Weibliche Überlegenheit
I n den folgenden Tagen war alles eitel Sonnenschein. Weder lag Sturm in der Luft noch stießen wir auf Gegenwind. Vielmehr wurden wir von begeisterten Menschen belagert und genossen Prestige und Anerkennung. Das war nicht schlecht angesichts dessen, dass wir die Gesellschaft herausforderten und an ungastlichen Orten nächtigen mussten. Allerdings ahnten wir nicht, was uns noch bevorstand.
Die Harmonie schien perfekt, als der Meister uns zu einem Besuch im charmantesten aller Tempel, dem Tempel der Mode, einlud. Im Süden der Stadt fand gerade eine luxuriöse Schau renommierter Modeschöpfer statt, und wieder einmal war die mächtige Unternehmensgruppe Megasoft involviert, diesmal über ihre weltweite Modekette La Femme mit ihren mehr als zehn internationalen Designerlabels und zweitausend Boutiquen in zwanzig Ländern. Wir fanden die Idee des Meisters ziemlich absonderlich. Warum sollte in einem solch eleganten Ambiente jemand Träume nötig haben? Zumindest dort herrschte ja wohl kein Mangel an Selbstbewusstsein! Tatsächlich hatten wir keine Ahnung vom Ausmaß selbstzerstörerischen Körperkults auf den Laufstegen.
Zunächst fragten wir uns aber, was der Meister eigentlich vorhatte. Wie würde er sich verhalten und wen würde er ansprechen? Wir hofften inständig auf seine Diskretion, auch wenn wir die Turbulenzen bereits vorausahnten.
Wie sollten wir überhaupt in die Veranstaltung hineinkommen? Wir waren ja schon am Einlass der Computermesse abgewiesen worden. In unserem pittoresken Aufzug würden wir in der Welt der Haute Couture garantiert sofort auffallen und in hohem Bogen wieder vor die Tür gesetzt werden.
So lief der Meister gerade in einem verbeulten schwarzen Anzug herum, der mit blauen Flicken ausgebessert und ihm viel zu groß war. Dazu trug er ein moosgrünes, zerknittertes Hemd mit Kugelschreiberflecken. Ich trug ein verwaschenes Polohemd und eine etwas fleckige helle Hose und sah auch ziemlich schäbig aus.
Doch Bartholomäus’ Outfit war mit Abstand das abwegigste oder vielleicht auch das lustigste. Seine leuchtend gelbe Hose, das Geschenk einer Witwe, die in der Nähe unserer Brücke wohnte, ging ihm nicht einmal bis zu den Knöcheln, aber er war’s zufrieden, lebte er doch nach dem Sprichwort »Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins
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