Der Traumhändler
mehr als naiv war.
Der Meister machte eine Atempause, nahm den riesigen bunten Modetempel in den Blick und richtete sich dann mit lauter Stimme an die Umstehenden. Er wollte, dass sie ihm von den neuesten Modetrends berichteten, was in seinem Aufzug äußerst merkwürdig wirkte. Doch da die Modewelt ja ziemlich vielseitig ist, meinten viele, wir wären der Anhang irgendeines unkonventionellen, exzentrischen Designers.
Geschmackvoll und elegant gekleidete Menschen begannen, uns zu umringen, und einige stellten sich uns sogar vor. Wir standen etwas eingeschüchtert neben dem Meister, der seine polemischen Ideen weiter ausführte: »Gerade als die Frauen glaubten, das Patriarchat zum Wanken gebracht zu haben, hat die Modewelt sie in ein neues Korsett gezwängt, das subtiler und damit infamer ist als alle vorherigen Rollenklischees!«
Dann sagte er tieftraurig: »Zwei!«
Ich hatte keine Ahnung, worauf der Traumhändler hinauswollte. Zwar war mir klar, dass Menschen durch Klischees in Schubladen gesteckt, auf wenige Eigenschaften oder Verhaltensweisen reduziert und zum Beispiel als Verrückte, Drogenabhängige, korrupte Politiker, Kommunisten, Kleinbürger, Juden, Terroristen oder Schwule abgestempelt werden, anstatt dass man sie nach ihrer wahren Persönlichkeit beurteilt und in ihrer menschlichen Vielfalt anerkennt. Aber was hatte die schillernde Modewelt damit zu tun? Immerhin waren die Frauen doch jetzt frei, sich zu kleiden, wie es ihnen passte, sich die Kleidung zu kaufen, die ihnen gefiel, und den Körper zu haben, den sie sich wünschten! Ich verstand nicht, worum sich der Meister derart sorgte. Doch der Verlauf seiner Rede beeindruckte mich zunehmend: »Das neue Klischee, dem sich die Frauen unterwerfen sollen, ist ein von der Modewelt durchgesetztes, völlig unrealistisches Schönheitsideal, das die genetische Ausnahme zum erstrebenswerten Modell gemacht hat! Welch ein Verbrechen am überwiegenden Teil der Menschheit!«
Bartholomäus verstand erst mal gar nichts. »Chef, ist dieses Modell teuer?«, fragte er in der Annahme, es handele sich um ein Kleidungsstück.
Der Meister antwortete: »Die Folgen sind äußerst kostspielig.« Erklärend fügte er hinzu: »Um die Verkaufszahlen zu maximieren, sind auf den Laufstegen und in den Hochglanzmagazinen mittlerweile blutjunge, völlig abgemagerte Mädchen zu sehen. Dieses Schönheitsideal hat verhängnisvolle Folgen für das kollektive Unbewusste, wenn man bedenkt, welche Anziehungskraft die Modewelt auf die Frauen ausübt.«
Der Menschenauflauf um uns herum wurde immer größer. Nach einer kurzen Pause fuhr der Meister fort: »Die genetische Ausnahme ist zur Regel geworden. Kleine Mädchen haben ihre Barbiepuppen als Rollenmodell übernommen, und junge Frauen orientieren sich an den Laufstegschönheiten, auch wenn deren Körpermaße für sie unerreichbar sind. Milliarden von Frauen eifern diesem Schönheitsideal zwanghaft nach, als wäre es eine Droge. Sie haben sich selbst in Fesseln gelegt, und das, obwohl sie in der gesamten Menschheitsgeschichte immer großzügiger und solidarischer gewesen sind als die Männer. Der Anpassungszwang, dem sie sich unterwerfen, geht so weit, dass selbst Chinesinnen und Japanerinnen ihre natürliche Anatomie völlig verstümmeln lassen, um sich dem westlichen Schönheitsideal anzunähern. Wusstet ihr davon?«
Ich hatte das nicht gewusst und fragte mich, wie jemand, der mit der Modewelt nichts am Hut hat, über solche Dinge so gut informiert sein konnte.
Da unterbrach er meine Gedanken und sagte mit bestürzter Miene: »Drei!«, bevor er weiter ausführte, dass dieses Schönheitsideal sich wie ein tödliches Gift im kollektiven Unbewussten ausgebreitet, das Selbstwertgefühl der Frauen ausgehöhlt und ihr Selbstbewusstsein untergraben habe wie nie zuvor in der Geschichte. Da wir heutzutage im globalen Dorf lebten, hätten solche Klischees weltweit verheerende Auswirkungen. Genau zu dem Zeitpunkt, da die Frauen dachten, sie hätten sich endlich befreit, stutzte ihnen das System mit dem »Barbiesyndrom« die Flügel.
Aggressiv warf nun ein Modedesigner aus dem Publikum ein: »So ein Quatsch! Das ist doch nichts als feministische Propaganda!«
»Was gäbe ich dafür, dass es nur hohle Phrasen wären!«, seufzte der Meister betrübt und sagte: »Vier!«
Plötzlich fragte ein junges Mädchen etwas beunruhigt: »Warum nennen Sie zwischendurch immer diese Zahlen?«
Der Traumhändler schaute mich an und schwieg. In Gedanken war
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