Der Traumhändler
Wir hielten ihn für verantwortungslos, aber vielleicht war er ja ein unverstandenes Genie! Wir waren die Stimme des Systems und hatten ohne jedes Schuldgefühl mögliche Denker in den Orkus geschickt. Erst jetzt dämmerte mir, dass ich auch denen, die alle Fragen falsch beantworteten, die Höchstnote hätte geben können, wenn ich meinen Blick auf sie etwas geweitet hätte.
Da mir meine Verirrungen immer bewusster wurden, fühlte ich mich wie ein begossener Pudel. Sogar meinem Sohn gegenüber hatte es mir an Großherzigkeit gefehlt. João Marcos hatte als Kind eine leichte Lese-Rechtschreib-Schwäche, sodass er immer etwas schwächer war als der Rest seiner Klasse. Doch ich stellte hohe Anforderungen an ihn, setzte ihn unter Druck und wollte etwas aus ihm herausholen, was er nicht geben konnte. Er sollte ein glänzender Schüler sein, weil dadurch mein eigenes Image aufpoliert würde. Mein Sohn und meine Studenten würden in meinen Grabstein sicherlich nicht meißeln lassen, wie dankbar sie mir sind und wie sehr sie mich vermissen.
Jurema schien meine Gedanken zu lesen, tippte mich an und flüsterte mir zu: »Alexander Graham Bell hat einmal gesagt: ›Wenn wir die Wege nehmen, die andere vor uns ausgetreten haben, kommen wir nur da an, wo sie schon gewesen sind.‹ Wenn wir nicht mit neuen Ideen handeln, sodass die Studenten neue Wege einschlagen, geht es ihnen am Ende wie diesen Geschäftsleuten, die ihre Gesundheit ruiniert und ihre Träume zerstört haben.«
Nach und nach verließen die Mitglieder der Finanzelite nun den Friedhof, wobei sie die Mausoleen, an denen sie vorbeikamen, aufmerksam betrachteten. Einige mussten auch daran denken, dass das unmenschliche System vom sechzehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert Menschen schwarzer Hautfarbe gekauft hatte wie Tiere, um sie als Sklaven in düsteren, stinkenden Schiffsbäuchen nach Europa und Amerika zu schaffen. Vor ihnen lagen Zwangsarbeit und unstillbare Sehnsucht nach dem, was sie zurücklassen mussten: ihre Familie, ihre Freunde und ihre Freiheit.
Heutzutage schien das System neue Sklaven hervorgebracht zu haben. Sie bekamen zwar ein hohes Gehalt, doch auch sie mussten Kinder, Partner, Freunde und Träume zurücklassen für ein Leben in Konkurrenz, Angst und geistiger Zwangsarbeit. Der Traumhändler hatte es ja schon häufiger gesagt: Die Geschichte wiederholt sich.
Das Haus des Schreckens
D ie letzten Vorträge des Meisters, insbesondere der auf dem Recoleta -Friedhof, fanden ein größeres Medienecho als je zuvor. Dass inzwischen sogar die Finanzelite vom geheimnisvollen Wanderer verführt worden war, erregte großes Aufsehen. Alle stellten sich nun die Fragen, die mich schon seit Längerem nicht schlafen ließen.
Die einen bezeichneten ihn als größten Hochstapler überhaupt, die anderen als Denker, der seiner Zeit meilenweit voraus sei. Die einen warfen ihm Störung der öffentlichen Ordnung vor, die anderen hingegen sahen ihn als großen Friedensstifter. Für die einen war er gottlos, für die anderen ein spiritueller Führer. Manche hielten ihn für einen Außerirdischen, andere fanden ihn menschlicher als uns alle. Vielleicht war der Traumhändler eine Mischung – oder nichts – von alledem.
Die Frage seiner Identität war jedenfalls das Gesprächsthema Nummer eins in Kneipen, Restaurants, Firmenkantinen, ja sogar in den Schulen. Und die Leute redeten sich die Köpfe heiß.
Je berühmter er wurde, desto schwieriger gestaltete sich seine Mission. Obwohl er keine Interviews gab und seine geplante Route geheim hielt, war er nach jeder seiner Reden erneut in den Medien.
Wir ärgerten uns darüber, wie verzerrt seine Gedanken wiedergegeben wurden, doch er beruhigte uns mit den Worten: »Ohne Pressefreiheit keine freie Gesellschaft. Die Presse macht Fehler, aber ihr das Wort zu verbieten würde uns in tiefschwarze Nacht stürzen und der Gesellschaft die Stimme nehmen.«
Sein Ruhm wuchs in dem Maße, dass er schließlich auf Schritt und Tritt fotografiert wurde. Ihm gefiel es ganz und gar nicht, derart belagert zu werden, sodass er gar in Erwägung zog, in eine andere Stadt oder ein anderes Land zu gehen. Er wollte einfach nur unerkannt und ungestört mit Träumen handeln, vielleicht im Nahen Osten oder irgendwo in Asien.
Es war nicht mehr möglich, in kleinem Kreis zu diskutieren. Der Traumhändler zog die Massen magnetisch an, und die Menschentrauben um ihn herum wurden so groß, dass diejenigen, die außen standen, ihn kaum noch hören
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