Der Traumhändler
hinausgeworfen. Glücklicherweise jedoch hatten sie einen geduldigen Lehrmeister getroffen, dem vor allem die geistig Armen am Herzen lagen. Mir war es allerdings ein Rätsel, wie er es schaffte, diese unbelehrbaren Chaoten zu lieben.
Da er merkte, dass das Publikum immer noch etwas nervös war, zog Barnabas einen Riegel Schokolade aus der Tasche, biss hinein und fing an, über sich zu erzählen: »Früher bin ich oft auf diesem Friedhof spazieren gegangen, wenn ich deprimiert und betrunken war. Es war wie eine Therapie. Da die Lebenden mich als verantwortungslosen Säufer und Spinner abgestempelt hatten, mich beschimpften und mir billige Ratschläge gaben, aber mir selten zuhörten, ging ich hierher und sprach mit den Toten. Hier konnte ich meinen Tränen freien Lauf lassen, weil meine Versuche, noch mal von vorn anzufangen, immer wieder scheiterten, und ich ein solcher Versager war. Hier habe ich ausgesprochen, dass ich mich wie menschlicher Abfall fühlte. Hier habe ich Gott um Vergebung für meine Sauftouren gebeten, die auf einer Parkbank endeten, und dafür, dass ich meine Familie verlassen habe. Und nie hat mich ein Toter wegen meiner Verfehlungen getadelt.«
Die Unternehmer waren gerührt von Barnabas’ Ehrlichkeit und seiner Fähigkeit, Gefühle offen zu zeigen, da diese Eigenschaften in ihren Kreisen eher selten vorkamen. Sie sehnten sich zwar verzweifelt danach, sich anderen gegenüber zu öffnen, durften aber weder Schwäche zeigen und noch einfach Mensch sein.
Als er Barnabas seine Schwächen beichten sah, konnte Bartholomäus sich nicht zurückhalten. Er umarmte ihn und versuchte, ihn auf seine unvergleichliche Art und Weise zu trösten: »Hey, Präsident! Weine nicht! Ich bin doch viel schlimmer als du!«
»Ach was! Ich bin einfach pervers!«, rief Barnabas aus.
»Quatsch! Was glaubst du, wie lang mein Sündenregister ist? Ich bin ein Halunke!«, rief Bartholomäus lauter.
»Du kennst mich nur nicht! Ich bin total verdorben!«, rief Barnabas noch lauter.
Und unter den staunenden Augen der Zuschauer begannen die beiden, darüber zu streiten, wer der Schlimmere sei. So etwas hatten die Unternehmer noch nicht gesehen. Sie kannten nur den Wettstreit um den besten Platz. Wir wollten die bizarre Auseinandersetzung beenden, befürchteten aber, damit noch mehr Öl ins Feuer zu gießen. Um zu beweisen, dass er wirklich der Sittenlosere von beiden war, verlor Bartholomäus die Geduld und zählte auf: »Ich bin völlig verdorben, unehrlich und unzuverlässig. Ich zahle meine Rechungen nicht und begehre die Frau meines Nachbarn. Ich habe dir sogar schon Geld geklaut, als du betrunken warst …«
Barnabas unterbrach die Aufzählung und sagte beleidigt: »Hör schon auf! Du hast mich überzeugt – du bist wirklich der größte Schurke aller Zeiten!«
»Nun übertreib mal nicht!«, brauste Bartholomäus auf, dem der Titel gar nicht gefiel.
Angesichts dieses Irrsinns hob ich, der ich nie gebetet hatte, meinen Blick gen Himmel und flüsterte: »Lieber Gott, hab Erbarmen und bring diese beiden Irren zum Schweigen!«
Aber die Unternehmer fanden sie äußerst amüsant. Sie wünschten sich, genauso echt und locker zu sein wie sie. Sie arbeiteten zwar jahre- oder sogar jahrzehntelang mit denselben Kollegen zusammen, waren aber ihnen gegenüber so zugemauert wie die Grabstätten auf dem Friedhof. Auf beruflichem Gebiet waren sie längst aus ihrer Puppe geschlüpft, aber privat schlossen sie sich darin ein. Sie verbargen ihre Gefühle und waren noch nicht einmal in der Lage, jemandem die Schulter zum Anlehnen zu bieten.
Der Meister wies die beiden Saufkumpanen nun nicht etwa streng in ihre Schranken, sondern lobte sie zu unserer Verblüffung auch noch: »Herzlichen Glückwunsch, ihr habt mich an meine eigenen Fehler erinnert.«
»Du kannst auf mich zählen, Chef!«, rief Honigschnauze und sah mich dabei an. Er wollte mich provozieren und lallte: »Hey, Super-Ego! Du kannst von mir lernen!«
Trotz des Ortes, an dem wir uns befanden, der äußerst unangemessen war, um sich aufzuregen, geriet mein Blut in Wallung, und so musste ich mir wieder einmal eingestehen, dass auch ich alles andere als fehlerfrei war.
Anschließend erzählte der Mann, dem wir folgten, eine weitere seiner Geschichten. Er bemerkte, dass viele Lebewesen dem Menschen körperlich und in Bezug auf die Wahrnehmungsfähigkeit überlegen seien. Sie können besser sehen, hören und riechen, schneller laufen, größere Sprünge machen und stärker
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