Der Traumhändler
zubeißen. Aber trotzdem verfügt der Mensch über ein viel differenzierteres Gehirn mit über hundert Milliarden Zellen. Mit einem solchen Gehirn müssten wir doch alle anderen Lebewesen überflügeln!
Dann fragte er: »Warum sind wir aber trotz unseres Gehirns so abhängig, insbesondere solange wir klein sind? Ein vierjähriges Kind, das auf sich gestellt ist, wird nur schwer überleben, während viele Säugetiere und Reptilien in diesem Alter keinerlei Kontakt mehr zu ihren Eltern haben, teilweise bereits selbst fortpflanzungsfähig sind oder sogar schon ihr Lebensende erreicht haben. Warum sind wir abhängiger als die anderen Lebewesen, obwohl wir die Unabhängigkeit so lieben und uns vom Individualismus so angezogen fühlen?«
Die Anwesenden verstummten. Sie wussten nicht, worauf der Traumhändler hinauswollte, und merkten gar nicht, dass er sie gerade auf den Marktplatz seiner Ideen und in das Warenhaus seiner Träume entführte.
Ein älterer Unternehmer über siebzig, dem man ansah, dass er zu den Superreichen gehörte, zog mich zur Seite und flüsterte mir zu: »Von irgendwoher kenne ich diesen Mann. Wissen Sie, wo er wohnt?«
»Wenn ich es Ihnen sagen würde, würden Sie mir sowieso nicht glauben. Bestimmt verwechseln Sie ihn«, sagte ich.
»Nein! Eine solche geistige Brillanz vergisst man nicht!«
Ein anderer Unternehmer um die fünfzig, der schon dreimal Konkurs anmelden musste und immer in den sozialen Bereich investiert hatte, antwortete nun auf die Frage des Meisters: »Erziehung und Bildung!«
»Ganz genau! Erziehung und Bildung sind die Schlüssel. Das Gehirn hat uns als Kinder so abhängig gemacht, damit wir existenzielle Erfahrungen, die im Laufe der Generationen gesammelt wurden, im Erziehungsprozess erwerben und verinnerlichen. Erfahrungen können nicht auf genetischem Wege weitergegeben werden, weshalb Erziehung und Bildung unersetzlich sind.«
Nun rüttelte der Traumhändler seine Zuhörer auf, indem er ihnen klarmachte, wie sehr ihr Bewusstsein kolonisiert war, und warnte sie vor den Folgen der geistigen Ausbeutung, die sie höchstwahrscheinlich auch gegenüber ihren Kindern praktizierten.
Er sprach darüber, dass viele Eltern ihre Kinder extrem unter Druck setzen, damit diese im Konkurrenzkampf bestehen. Sie müssen immer die Besten sein und werden dafür außerhalb der Schule in alle möglichen Kurse gesteckt, sodass ihre Woche aussieht wie die eines Managers. Übermäßiger Druck zerstört aber die kindliche Kreativität, blockiert den Lernprozess und die Verarbeitung von Erfahrungen; er schwächt existenzielle Werte und am Ende auch die Menschlichkeit.
»Wissen eure Kinder um die Irrtümer, die ihr auf eurem eigenen Lebensweg begangen habt? Wissen sie, wie ihr schwierige Lebenssituationen überstanden habt? Kennen sie eure Ängste und Zweifel, wie auch die Momente in eurem Leben, in denen ihr Courage gezeigt habt? Wissen sie um eure Ideale und eure Lebensphilosophie, eure Intuition, Analyse- und Reflexionsfähigkeit? Haben sie auch eure Tränen gesehen? Verzeiht mir, dass ich es so offen sage, aber: Wenn sie das alles nicht kennen, seid ihr dabei, Roboter zu erziehen, die vom System gelenkt werden, und nicht menschliche Wesen, die es verändern können. Und ihr ignoriert den Grund, warum unser Gehirn uns überhaupt so abhängig von anderen gemacht hat, wie wir sind.«
Dann machte er einen Vorschlag, der alle in ziemliche Unruhe versetzte. »Fragt euch einmal, was eure Kinder wohl eines Tages in euren Grabstein meißeln lassen werden!«
Damit hatte er mich kalt erwischt. Ich wollte lieber gar nicht wissen, was mein Sohn über mich dachte. Im Grunde kannte er mich gar nicht, denn ich hatte meine Irrwege und die manchmal schmerzhaften Lehren daraus vor ihm verborgen, meine existenziellen Erfahrungen nicht an ihn weitergereicht, sondern nur von ihm gefordert, im System zu funktionieren.
Dann fragte ich mich, woher jemand, der offensichtlich am Rande der Gesellschaft lebte, überhaupt das Wissen darüber hatte, was Erziehung eigentlich bedeutete. Wie kam der Meister dazu, ein solch humanistisches Bildungsideal zu vertreten? Und was hielt er selbst vor uns verborgen?
Nun lenkte der Traumhändler unsere Aufmerksamkeit auf sein großes Ziel: »Das kapitalistische System hat der Gesellschaft unvorstellbaren Gewinn eingebracht, läuft aber ernsthaft Gefahr, in weniger als einem Jahrhundert, ja vielleicht sogar in wenigen Jahrzehnten, zusammenzubrechen – allerdings nicht, wie Marx
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