Der Tristan-Betrug
für eine Torheit, für blanken Wahnsinn halten. Das sind die vernünftigen Generale, die sich bemühen, Hitlers Größenwahn im Zaum zu halten. Sie erinnern die Befürworter eines Russlandfeldzugs immer wieder an Napoleons Niederlage vor Moskau im Jahr 1812.«
»Aber wie können sie Nichtstun rechtfertigen, wenn Stalin einen Präventivschlag plant, was unser Material doch zu beweisen scheint?«
»Sie rechtfertigen Untätigkeit, indem sie die Echtheit des Materials anzweifeln. Das ist eine ganz natürliche Reaktion.«
»Die Echtheit anzweifeln? Sind die Dokumente als Fälschungen erkannt worden?«
Corcoran schüttelte langsam den Kopf. »Dafür gibt es keinerlei Anzeichen. Die Dokumente sind wirklich erstklassige Fälschungen, muss ich sagen. Unseres Wissens hat im deutschen Oberkommando niemand Grund zu dem Verdacht, das Material sei von den Amerikanern gefälscht worden. Die Kritiker sagen jedoch, es könnte in Moskau - von den Russen selbst - gefälscht worden sein.«
»Aber das ist doch Unsinn! Zu welchem Zweck? Um zu erreichen, dass die Deutschen sie überfallen?«
»Sie dürfen nicht vergessen, dass es innerhalb der sowjetischen Führung Leute gibt, die Stalin so sehr hassen, dass sie eine deutsche Invasion herbeisehnen - sie sehen Hitler als ihren Erlöser. Diese Fraktion ist vor allem in der Roten Armee sehr stark.«
»Sie würden das eigene Land unterjochen lassen, um Stalin loszuwerden? Wahnsinn!«
»Der springende Punkt ist, Stephen, dass es gute Gründe gibt, die Echtheit der WOLFSFALLE-Dokumente anzuzweifeln. Vor allem, wenn man sie anzweifeln will, wenn man einen Überfall auf die Sowjetunion für den katastrophalen Fehler hält, der er tatsächlich wäre. Deshalb werden Fragen aufgeworfen. Das Argument der Kritiker lautet: Wenn der NKWD so gut ist, weshalb hat er diese Frau, diese Generalstochter, die Rudolf von Schüssler streng geheimes Material übergeben hat, dann nicht längst gefasst?«
»Aber solange die Dokumente für echt gehalten werden ...«
»Es gibt weiterhin Zweifel«, unterbrach Corcoran ihn mit Stahl in der Stimme. »Und in Kombination mit vernünftigen, logistischen Argumenten gegen einen Überfall auf Russland beginnen diese Zweifel die Oberhand zu gewinnen. Die Zeit arbeitet gegen uns. Tun wir nicht noch mehr - etwas, das die Echtheit dieser Dokumente bestätigt -, ist das Unternehmen zum Scheitern verurteilt.«
»Aber was ist noch mehr möglich?«
»Die Quelle muss über allen Zweifel erhaben sein«, sagte Corky nach einer Pause.
»Die Quelle ...? Die Quelle ist die Tochter eines Generals der Roten Armee - eines Generals, von dem die Deutschen wissen, dass er zu den heimlichen Verschwörern gegen Stalin gehört!«
»Ein heimlicher Verschwörer gegen Stalin«, wiederholte Corky mit sarkastischem Unterton, »der nur zufällig nicht geschnappt und liquidiert worden ist?«
»Damit hat von Schüssler Lana in der Hand! Er besitzt Beweise dafür.«
»Die Welt der Spionage ist ein Labyrinth aus Spiegeln, mein Sohn. Merken Sie sich das jetzt, bevor's zu spät ist. Spiegel, die andere Spiegel reflektieren.«
»Was zum Teufel soll das wieder heißen?«
»Im April 1937 hat Joseph Stalin aus Prag ein Dossier mit Beweisen dafür erhalten, dass Generalstabschef Marschall Tuchatschewski und weitere sieben Generale gemeinsam mit dem deutschen Oberkommando einen Staatsstreich gegen das Sowjetregime geplant hatten.«
»Richtig. Das war die Grundlage für die Hochverratsprozesse und die anschließenden großen Säuberungen.«
»Ja. Fünfunddreißigtausend Offiziere wurden erschossen. Die gesamte Führung der Roten Armee - und das am Vorabend eines Krieges. Ein geradezu unglaublicher Glücksfall für die Deutschen, stimmt's?«
» Glücksfall...?«
»Sie glauben doch hoffentlich nicht, Stephen, dass wir die Einzigen sind, die Dokumente fälschen können. Reinhard Heydrich, der Chef des SS-Sicherheitsdiensts, ist ein ernst zu nehmender Gegner. Ein wirklich brillanter Mann. Er wusste, wie paranoid Stalin ist, wie bereitwillig er glauben würde, dass seine eigenen Leute sich gegen ihn verschworen hätten.«
»Wollen Sie damit behaupten, die Beweise gegen Tuchatschewski seien gefälscht gewesen?«
»Im Auftrag Heydrichs haben Alfred Naujocks und Dr. Hermann Behrens, zwei seiner Stellvertreter, ein raffiniertes Täuschungsmanöver eingefädelt. Er hat seine SD-Spezialisten für Dokumente zweiunddreißig Schriftstücke fälschen lassen -Korrespondenz zwischen Tuchatschewski und weiteren
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