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Der Triumph der Heilerin.indd

Titel: Der Triumph der Heilerin.indd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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gekommen war, als sie mit den Fingern das wächserne Siegel mit der vertrauten Prägung berührt hatte. Aber aufgemacht hatte sie es noch nicht, und vielleicht würde sie es auch nie öffnen.
    Anne stand ganz still und machte sich stark und schwer wie eine Steinsäule, unangreifbar. Sie sammelte sich und war fast froh, dass der Wettstreit endlich da war. Der Wettstreit zwischen Vergangenheit und Zukunft.
    Sie befand sich an ihrem Lieblingsplatz, auf dem mit Zinnen versehenen Wehrgang des Gutshauses, von wo aus sie ins Tal hinunter und an klaren Tagen, wenn sie sich anstrengte, in vager Ferne sogar das Meer sehen konnte. Bald gab es Abendessen, und ihr Sohn musste versorgt werden. Anne ging zur Tür, die zum Treppenhaus führte. Da fuhr plötzlich der Wind in ihr offenes Haar und wirbelte es durcheinander. Und sie hörte die Stimme.
    Anne. Anne.
    Zwischen ihr und der Tür stand die Schwertmutter. Sie verschmolz in ihrem grauschwarzen Mantel im Abendlicht beinahe mit den Schatten des windigen Orts. Annes Blick und der der Frau trafen sich, und plötzlich war es völlig windstill.
    Und dann bewegte sich die Gestalt, ein einziger, leichter Schritt, und der Weg zur Treppe war frei.
    Das alles geschah in nur einem Augenblick, dann ertönte ein leises Pfeifen wie von einem Vogel, und die Frau versank in den Schatten und war verschwunden, als sei sie nie hier gewesen.
    Anne blinzelte geblendet. Aber die Sonne war untergegangen. Die Nacht hatte den Tag abgelöst.
    Annes Schlafzimmer befand sich im dritten Stock des Haupthauses. Es war kein richtiges Sonnenzimmer, dafür war es zu groß, und in drei von vier Wänden befanden sich Türen. Trotzdem, es war ein anständiges Schlafzimmer mit einem schönen Blick über das Land. Die zwei Frauen kauerten hinter den roten Vorhängen und unterhielten sich leise. Alle anderen im Haus schliefen schon. Auf dem Überbett lag der Brief des Königs.
    Edward, König von Gottes Gnaden von England, Frankreich, Wales
    und Irland ... gebietet Lady Anne de Bohun in gebührlicher Eile an den königlichen Hof zu Westminster zu kommen.
    Anne starrte das Pergament an. Die Worte hatten beinahe ihren Sinn verloren, so oft hatte sie sie schon gelesen. Deborah nahm den Brief und überflog die kalten, schwarzen Buchstaben.
    Es ist der ausdrückliche Wunsch des Königs, dass besagte Lady Anne de Bohun mit der königlichen Familie zusammen an einem Dankgottesdienst teilnehme .
    »Das ist eine offizielle Einladung. Du musst eine Antwort schicken.«
    Anne war verstimmt. »Der Bote soll warten. Oder abreisen. Das ist mir egal.«
    Deborah versuchte es wieder. »Die Cuttifers werden schwer dafür büßen müssen, wenn du nicht bei Hof erscheinst, Anne.«
    »Aber dafür kann ich nichts.« Anne zog sich die Decke über die Schultern, als Kind hätte sie sich wahrscheinlich darunter versteckt. Deborah lächelte zärtlich und strich ihrer Tochter durchs Haar. Manchmal erkannte sie unter der Schale der erwachsenen Frau noch das eigenwillige Kind.
    »Doch. Sie sind immer so gut zu dir gewesen.«
    Anne schlug sich die Hände vor das Gesicht. Das Kind kam immer mehr zum Vorschein. »Was soll ich nur tun, Deborah? Wie soll ich mich entscheiden?«
    Zorn ist ein schlechter Ratgeber, Tochter.
    Wie viele Stimmen sprachen zu ihr. Eine? Oder zwei?
    Aber ich kann doch nicht zu ihm gehen? Anne fasste unwillkürlich nach Deborahs Hand, ohne die Worte auszusprechen.
    Unter dem Vorhangzelt war es ganz still. Mutter und Tochter atmeten wie aus einem Mund, tief und schwer.
    Du hast nur eine Möglichkeit. Vergiss deinen Zorn. Du hast eine Verantwortung und eine Verpflichtung.
    Ganz Herrard Great Hall schlief, bis auf die beiden Frauen. Und eine dritte, die zu ihnen getreten war. Die Vorhänge des großen Bettes bebten. Die Stimme war nur ein Hauch, ein sanfter Wind, der wie eine Schwalbe durch den Raum schwebte.
    Eine Möglichkeit. Du musst dich entscheiden, und dann wirst du Gewissheit haben.
    Von draußen ertönte ein Bellen. Ein Hund, ein Fuchs? Von fern antwortete ein Heulen. Es war nach Mitternacht, eine Zeit, in der selbst die Ruhelosen träumen.
    Träumen wir, Mutter?
    Nichts, keine Antwort. Aber warum sah Anne, wie eine Tür aufging und ein Lichtstrahl hereinfiel? Warum hörte sie ... was? Einen Wasserfall? Wasser, das von großer Höhe herunterstürzte?
    »Anne, hörst du mich? Anne, wach auf.«
    Deborah schüttelte Anne an der Schulter. Aber das machte den Traum nur noch lebhafter, der aus der Vergangenheit mit voller Wucht

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