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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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brachte sie zum Tresen, wo er Anweisungen zu geben schien. Ein zweiter Bargehilfe tauchte auf, um den Aschenbecher in einen Eimer zu leeren und den Tisch abzuwischen.
    Als Robert zurückkam, sagte Mary: »Von Ihrer Frau haben Sie uns nicht viel erzählt.«
    Er gab ihr eine Streichholzschachtel in die Hand, auf der Name und Adresse der Bar gedruckt standen. »Ich bin fast jede Nacht hier.« Er schloß ihre Finger um die Schachtel und drückte sie. Als er an Colins Stuhl vorbeikam, streckte Robert die Hand aus und verstrubbelte ihm das Haar. Mary sah ihn gehen, saß eine oder zwei Minuten gähnend da, rüttelte dann Colin wach und lotste ihn zur Treppe. Sie waren die letzten, die gingen.
Vier
    Die Straße verschwand in der einen Richtung in völliger Dunkelheit; in der anderen ließ ein diffuses blaugraues Licht eine Reihe flacher Gebäude erkennen, die sich wie in Granit gehauene Blöcke absenkten und im Düster zusammenliefen, dort wo die Straße abbog. Tausende von Metern hoch wies ein abgemagerter Wolkenfinger über die Linie der Biegung und errötete. Ein kühler, salziger Wind fuhr durch die Straße und scheuerte eine Zellophanverpackung an der Stufe entlang, auf der Colin und Mary saßen. Hinter einem festverriegelten Fenster direkt über ihnen erklang gedämpftes Schnarchen und das Schaben des Bettrosts.
    Mary lehnte ihren Kopf an Colins Schulter, und er lehnte seinen an die Wand hinter sich, zwischen zwei Abflußrohre. Vom helleren Straßenende her trabte ein Hund auf sie zu, seine Krallen klickten spitz auf den abgewetzten Steinen. Als er sie erreichte, blieb er weder stehen, noch würdigte er sie eines Blickes, und nachdem er sich in der Dunkelheit aufgelöst hatte, war seine komplizierte Schrittfolge noch zu hören.
    »Wir hätten die Stadtpläne mitnehmen sollen«, sagte Colin.
    Mary lehnte sich enger an ihn. »Tut fast gar nichts«, murmelte sie. »Wir machen doch Ferien.«
    Eine Stunde später wurden sie durch Stimmen und Gelächter geweckt. Irgendwo bimmelte unablässig eine helle Glocke. Das Licht war jetzt matt, und die Brise war warm und feucht wie der Atem eines Tiers. Kleine Kinder in leuchtendblauen Kitteln mit schwarzen Kragen und Manschetten flitzten an ihnen vorbei, hoch auf dem Rücken trug jedes ein ordentliches Bücherpaket. Colin kam hoch und torkelte, den Kopf in beiden Händen, zur Mitte der engen Straße, wo die Kinder auseinanderwichen und sich um ihn scharten. Ein kleines Mädchen warf ihm einen Tennisball in die Magengrube und fing den Abpraller geschickt wieder auf; die Menge quietschte vor Vergnügen und Applaus. Dann hörte das Gebimmel auf, und die übriggebliebenen Kinder verstummten und begannen verbissen loszurennen. Die Straße war mit einemmal auffallend leer. Mary stand tiefgebückt bei der Stufe und kratzte sich mit beiden Händen heftig an Wade und Knöchel ihres einen Beins. In der Straßenmitte starrte Colin leicht schwankend in die Richtung der flachen Gebäude.
    »Mich hat was gestochen«, rief Mary.
    Colin kam und stellte sich hinter sie und sah ihr beim Kratzen zu. Eine Anzahl kleiner roter Punkte wuchs zu Münzengröße und entflammte hochrot. »Ich würde es lieber bleiben lassen«, sagte Colin. Er faßte ihr Handgelenk und zog sie auf die Straße. Weit hinter sich hörten sie die Kinder eine Gebetsformel oder das Einmaleins herunterleiern; eine Akustik, die an einen Raum von gewaltigen Ausmaßen denken ließ, verzerrte ihre Stimmen.
    Mary hüpfte auf dem Bein. »O Gott!« rief sie in ihrer Qual etwas selbstspöttisch. »Ich sterbe, wenn ich nicht dran kratze. Und einen Durst hab ich!«
    Durch seinen Kater hatte Colin eine für ihn sehr untypische abweisende und ruppige Autorität erlangt. Er stand hinter Mary, klemmte ihr die Arme am Körper fest und lenkte sie die Straße hinunter. »Wenn wir da hinunter gehen«, sagte er ihr ins Ohr, »kommen wir zum Meer, glaube ich. Da unten hat sicher ein Café auf.«
    Mary ließ sich vorwärts schieben. »Du bist unrasiert.«
    »Vergiß nicht«, sagte Colin, als sie schneller die Neigung hinuntergingen, »wir machen doch Ferien.«
    Das Meer lag direkt hinter der Straßenbiegung. Der Uferbezirk war schmal und menschenleer, in beiden Richtungen von einer lückenlosen Kette verwitterter Häuser begrenzt. Aus dem glatten, gelblichen Wasser staken in wunderlichen, aussichtslosen Winkeln hohe Pfähle, aber es lagen keine Boote daran vertäut. Rechts von Colin und Mary wies ein narbiges Blechschild den Weg am Kai entlang zu einem

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