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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Ich glaubte, er wisse alles, so wie Gott. Er stellte mich auf die Probe, um herauszufinden, ob ich ehrenwert genug sei, die Wahrheit zu sagen. Lügen war also zwecklos. Ich erzählte ihm alles, vom Lippenstift, den Pudern, den Cremes und den Parfüms, den Seidenstrümpfen aus der Schublade meiner Mutter, und ich erzählte ihm - als würde dies alles entschuldigen -, wie sorgfältig diese Dinge aufgeräumt worden waren. Ich erwähnte sogar das Fenster. Zuerst lachten meine Schwestern und leugneten, was ich sagte. Doch als ich immer weiter redete, verstummten sie. Als ich fertig war, sagte mein Vater nur: ›Danke schön, Robert‹, und aß weiter. Für den Rest der Mahlzeit sprach keiner mehr. Ich wagte nicht, in die Richtung meiner Schwestern zu blicken.
    Nach dem Abendessen und kurz vor meiner Schlafengehenszeit wurde ich in das Arbeitszimmer meines Vaters gerufen. Dies war ein Ort, wo niemand hindurfte, hier lagen alle Staatsgeheimnisse. Es war der größte Raum im Haus, denn mein Vater empfing hier manchmal andere Diplomaten. Die Fenster und die dunkelroten Samtvorhänge reichten bis zur Decke hoch, und die Decke trug Blattgold und große kreisrunde Muster. Es gab einen Kronleuchter. Überall standen Bücher in Glasschränken, und der Fußboden lag voll mit Teppichen aus aller Welt. Mein Vater war Teppichsammler.
    Er saß hinter seinem gewaltigen Schreibtisch, der mit Papieren übersät war, und meine beiden Schwestern standen vor ihm. Er ließ mich auf der anderen Seite des Raumes in einem großen Ledersessel Platz nehmen, der einmal meinem Großvater gehört hatte, der ebenfalls Diplomat gewesen war. Keiner sprach. Es war wie in einem Stummfilm. Mein Vater holte einen Ledergurt aus einer Schublade und schlug meine Schwestern - drei sehr harte Hiebe auf das Hinterteil -, und Eva und Maria gaben keinen Mucks von sich. Plötzlich war ich draußen vor dem Arbeitszimmer. Die Tür war zu. Meine Schwestern waren auf ihre Zimmer gegangen, um zu heulen, ich ging die Treppe zu meinem eigenen Schlafzimmer hinauf, und das war das Ende. Mein Vater erwähnte diese Sache nie wieder.
    Meine Schwestern! Sie haßten mich. Sie mußten Rache üben. Ich glaube, sie sprachen wochenlang von nichts anderem. Auch das Folgende geschah, als das Haus leer war, keine Eltern, keine Köchin, einen Monat nachdem meine Schwestern geschlagen worden waren, vielleicht sogar noch später. Zuerst muß ich Ihnen noch erzählen, daß ich viele Dinge nicht durfte, obwohl ich der Liebling war. Vor allem durfte ich nichts Süßes essen oder trinken, keine Schokolade, keine Limonade. Mein Großvater verbot meinem Vater alles Süße, bis auf Obst. Das schade dem Magen. Vor allem aber schadeten Süßigkeiten, besonders Schokolade, den Jungens. Süßes mache sie so charakterschwach wie Mädchen. Vielleicht war daran etwas Wahres, das kann nur die Wissenschaft entscheiden. Mein Vater sorgte sich zudem um meine Zähne, er wollte, daß ich solche Zähne bekam wie er, vollkommen. Außer Haus aß ich die Süßigkeiten von anderen Jungens, doch daheim gab es keine.
    Also, an diesem Tag kam Alice, die jüngste Schwester, zu mir in den Garten und sagte: ›Robert, Robert, komm schnell in die Küche. Da gibts ein Festessen für dich. Eva und Maria haben ein Festessen für dich!‹ Zuerst ging ich nicht, weil ich glaubte, es könnte ein Trick sein. Doch Alice sagte immer wieder: ›Komm schnell, Robert! ‹, und schließlich ging ich, und in der Küche da waren Eva und Maria und Lisa, meine andere Schwester. Und auf dem Tisch da standen zwei große Flaschen Limonade, eine Sahnetorte, zwei Tafeln Kochschokolade und eine große Schachtel Marshmallows. Maria sagte: ›Das ist alles für dich‹, und ich war sofort mißtrauisch und sagte: ›Warum?‹ Eva sagte: ›Wir möchten, daß du in Zukunft netter zu uns bist. Wenn du das alles aufgegessen hast, wirst du daran denken, wie lieb wir zu dir sind.‹ Das klang einleuchtend, und die Sachen sahen so lecker aus, also setzte ich mich hin und griff nach der Limonade. Doch Maria hielt meine Hand fest. ›Zuerst‹, sagte sie, ›mußt du eine Medizin einnehmen.‹- ›Warum?‹ - ›Du weißt doch, daß Süßigkeiten deinem Magen schaden. Wenn du krank bist, wird Papa wissen, was du gemacht hast, und dann sitzen wir alle in der Patsche. Diese Medizin wird alles in Ordnung bringen.‹ Also öffnete ich den Mund, und Maria schob mir vier große Löffel voll mit etwas Öligem hinein. Es schmeckte scheußlich, aber das machte

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