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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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nicht einmal zum Anschauen blieb jemand stehen.
    »Wenn es eine Ambulanz gibt«, sagte Colin und faßte Marys Hand fester, »könnte es auch einen Laden geben, der Erfrischungen verkauft.«
    Mary war plötzlich außer sich. »Ich brauche unbedingt ein Glas Wasser. Das werden sie hier ja wohl noch haben.« Ihre Unterlippe war rissig, und die Haut um ihre Augen dunkel.
    »Sollte man meinen«, sagte Colin. »Ist ja schließlich ein Krankenhaus.«
    Vor einem Komplex verzierter Glastüren, die von einem großen Halbrund aus Buntglas gekrönt wurden, hatte sich eine Schlange gebildet. Auf Zehenspitzen konnten sie durch die Widerspiegelungen von Menschen und Sträuchern eine uniformierte Gestalt ausmachen, einen Pförtner oder Polizisten, der in dem Dämmerlicht zwischen einer Türreihe und der nächsten stand und die Ausweispapiere jedes Besuchers prüfte. Ringsum zogen die Leute aus Hosen- und Handtaschen ihre leuchtendgelben Karten. Die Stationen hatten ganz offensichtlich Besuchszeit, denn von den Wartenden schien keiner krank zu sein. Die Menge schob sich näher zur Tür. Ein elegant beschriftetes Schild auf einer Staffelei verkündete einen langen und komplizierten Satz, in dem ein ganz ähnliches Wort wie »Sicherheit« zweimal vorkam. Weil sie zu müde gewesen waren, sich rechtzeitig aus der Schlange zu lösen oder ihr Bedürfnis nach einer Erfrischung zu erklären, nachdem sie die Schwelle einmal überschritten und sich dem uniformierten Wächter gegenüber befunden hatten, schritten Colin und Mary nun wieder die Auffahrt hinunter, begleitet von den allgemeinen Ratschlägen der mitfühlenden Menge an der Tür; es schien in der Umgebung gleich mehrere Cafés zu geben, doch keines in der Nähe der Krankenhauspforte. Mary sagte, sie wolle sich irgendwo hinsetzen und heulen, und als sie sich nach einem passenden Ort umsahen, hörten sie einen Ruf und das gedämpfte Dröhnen einer Schiffmaschine, die volle Kraft zurücklief; der nächste Wasserbus machte am Pier fest.
    Um das Hotel zu erreichen, mußte man eine der großen Touristenattraktionen der Welt überqueren, eine gewaltige, keilförmige Pflasterfläche, auf drei Seiten umschlossen von würdigen Arkadengebäuden und an ihrem offenen Ende beherrscht von einem Uhrturm aus roten Ziegeln und hinter diesem dann eine weltberühmte Kirche mit weißen Kuppeln und gleißender Fassade, ein, so war es oft beschrieben worden, in vielen Jahrhunderten der Zivilisation triumphales organisch-gewachsenes Ganzes. An den Längsseiten des Platzes aufgestellt und einander über die Pflastersteine hinweg konfrontierend wie zwei feindliche Armeen, standen die dichtgedrängten Stuhlreihen und runden Tische der alteingesessenen Kaffeehäuser; benachbarte Orchester, deren Musiker und Dirigenten, der morgendlichen Hitze ungeachtet, weiße Dinnerjackets trugen, spielten gleichzeitig Märsche und Romantisches, Walzer und Auszüge populärer Opern mit donnernden Höhepunkten. Überall hockten Tauben, stolzierten und ließen ihren Dreck fallen, und jedes Kaffeehausorchester pausierte unsicher nach dem ernsthaft gespendeten, dünnen Applaus der ihm am nächsten sitzenden Gäste. Touristen schwärmten über die strahlendhelle freie Fläche aus oder stoben in kleinen Gruppen davon und lösten sich im monochromen Schachbrettmuster aus Licht und Schatten in den zierlichen mit Kolonnaden versehenen Bogengängen auf. Etwa zwei Drittel der männlichen Erwachsenen hatten Kameras umhängen.
    Colin und Mary hatten es mit Mühe vom Boot bis hierher geschafft, und bevor sie den Platz überquerten, standen sie nun im abnehmenden Schatten des Uhrturms. Mary holte ein paarmal tief Luft und machte über den Lärm hinweg den Vorschlag, sich hier ein Glas Wasser zu besorgen. Sie blieben dicht zusammen und gingen um den Platz, aber es gab keine freien Tische, es gab nicht einmal Tische, die man sich hätte teilen können, und es stellte sich heraus, daß viel von dem Hin und Her auf dem Platz von Leuten rührte, die auf der Suche nach einem Stuhl waren, und daß diejenigen, die sich in die labyrinthischen Straßen stürzten, dies aus Verärgerung taten.
    Erst nachdem sie mehrere Minuten am Tisch eines älteren Paares ausgeharrt hatten, das sich auf den Stühlen wand und die Rechnung schwenkte, konnten sie sich endlich hinsetzen, und dann zeigte sich, daß der Tisch in einer entlegenen Ecke des Reviers ihres Obers stand und daß viele andere, die den Hals reckten und ungehört mit den Fingern schnalzten, vor ihnen

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