Der Trost von Fremden
mir redete. Sie sorgte dafür, daß mein Vater mich nicht zu hart schlug und nur an drei Abenden. Sie war groß und sehr schön. Sie trug meistens Weiß; weiße Blusen, weiße Halstücher und weiße Seidenkleider zu den Diplomatenempfängen. Ich erinnere mich am besten an sie in Weiß. Ihr Englisch war sehr langsam, doch jeder gratulierte ihr zur Eleganz und Vollendung, mit der sie es sprach.
Als Junge hatte ich oft schlimme Träume, sehr schlimme. Ich schlafwandelte auch, und manchmal tue ich das noch. Ich wachte oft mitten in der Nacht von meinen Träumen auf, und dann rief ich sofort nach ihr - ›Mum‹, so wie ein englischer Junge. Es war, als würde sie wachliegen und warten, denn weit hinten im Korridor, wo das Schlafzimmer meiner Eltern lag, hörte ich gleich das Knarren des Betts, den Lichtschalter, das leise Knacken eines Knochens in ihren bloßen Füßen. Und immer, wenn sie in mein Zimmer kam und sagte: ›Was ist los, Robert?‹, sagte ich stets: ›Ich möchte ein Glas Wasser.‹ Ich sagte nie: ›Ich habe schlecht geträumt‹ oder ›Ich habe Angst.‹ Immer ein Glas Wasser, sie holte es aus dem Badezimmer und sah mir beim Trinken zu. Dann küßte sie mich hier auf den Kopf, und ich war gleich eingeschlafen. Manchmal geschah das viele Monate lang jede Nacht, aber sie stellte mir nie Wasser ans Bett. Sie wußte, daß ich einen Vorwand brauchte, um mitten in der Nacht nach ihr zu rufen. Doch dazu bedurfte es keiner Erklärung. Wir standen uns sehr nah. Sogar nachdem ich geheiratet hatte, vor ihrem Tod, brachte ich ihr jede Woche meine Hemden.
Bis zum Alter von zehn schlief ich immer, wenn mein Vater weg war, in ihrem Bett. Das nahm dann ein jähes Ende. Eines Nachmittags war die Gattin des kanadischen Botschafters zum Tee eingeladen. Den ganzen Tag über wurden Vorbereitungen getroffen. Meine Mutter sorgte dafür, daß meine Schwestern und ich wußten, wie man eine Teetasse mit Unterteller hielt. Ich sollte die Schale mit Keksen und kleinen Sandwiches ohne Kruste im Zimmer herum anbieten. Ich wurde zum Frisör geschickt und mußte eine rote Fliege tragen, was mir von allem am verhaßtesten war. Die Gattin des Botschafters hatte blaues Haar, so etwas hatte ich noch nie gesehen, und sie brachte ihre Tochter Caroline mit, die zwölf war. Später fand ich heraus, daß mein Vater gesagt hatte, unsere Familien müßten sich aus diplomatischen und geschäftlichen Gründen befreunden. Wir saßen mucksmäuschenstill und hörten den beiden Müttern zu, und wenn uns die kanadische Dame eine Frage stellte, setzten wir uns kerzengerade hin und gaben höflich Antwort. Heute bekommen Kinder diese Dinge nicht mehr beigebracht. Dann nahm meine Mutter die Gattin des Botschafters mit, um ihr Haus und Garten zu zeigen, und die Kinder wurden allein gelassen. Meine vier Schwestern trugen ihre Gesellschaftskleider, und sie saßen alle zusammen auf dem großen Sofa, so dicht, daß sie wie eine Person wirkten, ein einziges Knäuel aus Bändern, Spitzen und Locken. Wenn alle meine Schwestern zusammen waren, machten sie einem angst. Caroline saß auf einem Holzstuhl, und ich saß auf einem anderen. Mehrere Minuten lang sprach keiner.
Caroline hatte blaue Augen und ein kleines Gesicht, so klein wie das eines Äffchens. Sie hatte Sommersprossen auf der Nase, und an diesem Nachmittag hing ihr das Haar in einem einzigen langen Zopf über den Rücken. Keiner sprach, doch vom Sofa her kam Getuschel und Gekicher, und aus den Augenwinkeln konnte ich jemanden jemand anders anstupsen sehen. Über unseren Köpfen konnten wir die Schritte von unserer Mutter und von Carolines Mutter hören, wie sie von Zimmer zu Zimmer wanderten. Plötzlich sagte Eva: ›Miss Caroline, schlafen Sie bei Ihrer Mutter?‹ Und Caroline sagte: ›Nein, und Sie?‹ Dann Eva: ›Nein, aber Robert.«
Ich wurde puterrot und wollte schon aus dem Zimmer rennen, aber Caroline drehte sich mit einem Lächeln zu mir um und sagte: ›Das finde ich wirklich zu süß‹, und von diesem Augenblick an war ich in sie verliebt, und ich schlief nicht mehr im Bett meiner Mutter. Sechs Jahre später traf ich Caroline wieder, und zwei Jahre danach wurden wir getraut.«
Um sie herum begann sich die Bar zu leeren. Die Deckenbeleuchtung war angegangen, und ein Bargehilfe fegte den Fußboden. Colin war während des letzten Teils der Geschichte weggedöst und vornübergesunken, den Kopf auf seinen Unterarm gebettet. Robert sammelte die leeren Weinflaschen von ihrem Tisch ein und
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