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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Beachtung finden würden. Mary stierte Colin mit schmäler werdenden, blutunterlaufenen Augen an und murmelte mit rissigen, verschwollenen Lippen etwas; und als er ihr scherzhaft die Pfütze aus der winzigen Kaffeetasse vor sich offerierte, vergrub sie das Gesicht in den Händen.
    Colin ging rasch um die Tische zu den Arkaden. Doch die Gruppe von Obern, die im tiefen Schatten am Eingang der Bar herumlungerten, verscheuchte ihn. »Kein Wasser«, sagte einer und wies auf das helle Meer zahlender Gäste, das von den dunklen Wölbungen der Bogen umrahmt wurde. Zurück am Tisch, faßte Colin Marys Hand. Sie waren in etwa gleich weit entfernt von zwei Orchestern, und obwohl der Klang nicht laut war, erschwerten die Dissonanzen und Überkreuzrhythmen eine Entscheidung. »Ich glaube, sie bringen irgend etwas«, sagte Colin unbehaglich.
    Sie lösten die Hände und lehnten sich zurück. Colin folgte Marys Blick zu einer in der Nähe sitzenden Familie, deren Baby, vom Vater um die Hüfte gestützt, auf dem Tisch stand und zwischen den Aschenbechern und leeren Tassen schwankte. Es trug einen weißen Sonnenhut, ein grün-weiß gestreiftes Matrosenleibchen, mit rosa Spitze und weißem Band gekräuselte Pumphosen, gelbe Halbsöckchen und scharlachrote Lederschuhe. Der blaßblaue, runde Teil seines Schnullers war fest auf den Mund gedrückt und verdeckte ihn, was dem Baby den fortgesetzten Ausdruck drolliger Überraschung gab. Aus den Mundwinkeln sammelte sich eine Sabberspur in seinem tiefen Kinngrübchen und quoll als leuchtendes Medaillon über. Die Hände des Babys ballten und öffneten sich, sein Kopf wackelte lächerlich, seine fetten, kraftlosen Beine spreizten sich um die massige, schamlose Last seiner Windel. Die wilden Augen, rund und klar, flammten über den sonnenhellen Platz und hefteten sich in anscheinendem Erstaunen und Zorn auf den Dachfirst der Kirche, wo, wie es einmal beschrieben worden war, die Kronen der Bogen wie in Ekstase zu marmornem Schaum hochkochten und sich in Blitzen und Kränzen skulpturierter Gischt weit in den blauen Himmel warfen wie Küstenbrecher, die vor dem Fall der Frost gebannt hatte. Das Baby stieß einen heiseren, gutturalen Laut aus, und seine Arme zuckten in die Richtung des Gebäudes.
    Als ein Ober, der ein Tablett mit leeren Flaschen trug, auf sie zugewirbelt kam, hob Colin zaghaft die Hand; doch der Mann war längst an ihnen vorbei und schon mehrere Meter weiter, noch ehe die Geste halb ausgeführt worden war. Die Familie traf Anstalten zum Aufbruch, und das Kind wurde herumgereicht, bis es in die Arme seiner Mutter gelangte, die ihm mit dem Handrücken den Mund abwischte, es vorsichtig auf den Rücken in einen silbereingefaßten Kinderwagen legte und daranging, ihm Arme und Brust mit energischem Zurren in ein vielschnalliges Ledergeschirr einzuschnüren.
    Es legte sich zurück und heftete seinen wütenden Blick auf den Himmel, als man es davonkarrte.
    »Wie mags den Kindern gehen«, sagte Mary, die ihm hinterherschaute. Marys zwei Kinder waren bei ihrem Vater, Marys Exgatten, der in einer Landkommune lebte. Drei an sie adressierte und alle am ersten Tag geschriebene Postkarten lagen noch immer auf dem Nachtkästchen im Hotelzimmer, unfrankiert.
    »Rugby, Würstchen, Comics und Limo werden ihnen fehlen, aber ansonsten prächtig, würde ich schätzen«, sagte Colin. Zwei Händchen haltende Männer, die einen Sitzplatz suchten, standen einen Augenblick an ihren Tisch gedrängt.
    »All diese Berge und weiten, freien Flächen«, sagte Mary. »Weißt du, manchmal kann es hier richtig beklemmend sein.« Sie starrte Colin an.
    Er nahm ihre Hand. »Wir sollten die Postkarten abschicken.«
    Mary zog ihre Hand weg und blickte sich nach den Bogen und Säulen um, die sich Hunderte von Metern lang wiederholten.
    Auch Colin blickte sich um. Es waren keine Ober zu sehen, und alle Welt schien ein volles Glas zu haben.
    »Wie ein Gefängnis ist das hier«, sagte Mary.
    Colin verschränkte die Arme und sah sie lange an, ohne mit der Wimper zu zucken. Es war seine Idee gewesen, hierherzukommen. Schließlich sagte er: »Unser Flug ist bezahlt und geht erst in zehn Tagen.«
    »Wir könnten ja den Zug nehmen.«
    Colin starrte an Marys Kopf vorbei.
    Die beiden Orchester hatten gleichzeitig aufgehört, und die Musiker strebten den Arkaden zu, in die Bars ihrer jeweiligen Kaffeehäuser; ohne ihre Musik wirkte der Platz sogar noch ausladender, nur teilweise erfüllt vom Geräusch von Schritten, dem scharfen

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