Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
Vom Netzwerk:
Krankenhaus. Flankiert von zwei Frauen mittleren Alters, die ausgebuchtete Plastiktüten schleppten, erreichte ein kleiner Junge den Uferbezirk auf derselben Straße wie sie. Die Gruppe machte bei dem Schild halt, die Frauen bückten sich und kramten in ihren Tüten, so als sei etwas vergessen worden. Als sie weitermarschierten, stellte der Junge eine piepsige Forderung und wurde sofort zum Verstummen gebracht.
    Colin und Mary hockten sich nahe der Kaikante auf Packkisten, die streng nach totem Fisch rochen. Es war eine Erleichterung, die engen Straßen und Durchgänge der Stadt hinter sich zu haben und aufs Meer hinauszublicken. Die Aussicht wurde beherrscht von einer flachen, umwallten Insel, etwa dreiviertel Kilometer weit draußen, die ein einziger Friedhof war. An einem Ende lagen eine Kapelle und ein kleiner Steinpier. Auf diese Entfernung und bei der durch einen bläulichen Frühnebel verzerrten Perspektive boten die hellen Mausoleen und Grabsteine den Anblick einer überentwickelten Stadt der Zukunft. Hinter einem flachen Damm aus Abgasdunst war die Sonne eine Scheibe aus schmutzigem Silber, klein und präzis.
    Wieder lehnte sich Mary an Colins Schulter.
    »Heute wirst du dich um mich kümmern müssen«, sagte sie mit einem Gähnen.
    Er streichelte ihr den Nacken. »Dann hast du dich also gestern um mich gekümmert?«
    Sie nickte und machte die Augen zu. Der Anspruch, umsorgt zu werden, war eine Gepflogenheit zwischen ihnen, und sie kamen ihm abwechselnd getreulich nach. Colin wiegte Mary in seinen Armen und küßte sie ein wenig abwesend aufs Ohr. Hinter der Friedhofsinsel war ein Wasserbus aufgetaucht und legte am Steinpier an. Sogar auf diese Entfernung konnte man erkennen, daß die winzigen aussteigenden Gestalten in Schwarz Blumen trugen. Ein dünner, plärrender Schrei erreichte sie über das Wasser, eine Möwe oder vielleicht ein Kind, und das Boot schob sich von der Insel weg.
    Es steuerte den Krankenhauspier an, der hinter einer Biegung des Uferbezirks lag und von ihrem Sitzplatz aus nicht zu sehen war. Das Krankenhaus selbst jedoch überragte die umliegenden Gebäude, eine Zitadelle mit abblätternder, senfgelber Leimfarbe, mit steilen, blaßroten Ziegeldächern, die ein wackliges Gewirr von Fernsehantennen stützten. Einige Stationen hatten hohe, vergitterte Fenster, die sich auf Balkone von der Größe kleiner Schiffe öffneten, wo Patienten oder weißgekleidete Krankenschwestern sitzend oder im Stehen aufs Meer hinausstarrten.
    Der Uferbezirk und die Straßen hinter Colin und Mary füllten sich mit Menschen. Alte Frauen mit schwarzen Tüchern trotteten in Schweigen gehüllt mit leeren Einkaufstaschen vorbei. Aus einem nahegelegenen Haus kamen der scharfe Geruch von starkem Kaffee und Zigarrenrauch, der sich mit dem Gestank »toter Fisch« vermengte und ihn beinahe tilgte. Ein verschrumpelter Fischer, der einen abgerissenen grauen Anzug und ein einstmals weißes Hemd ohne Knöpfe trug, so als sei er schon vor langer Zeit einem Bürojob entronnen, ließ dicht an den Packkisten, beinahe bei ihren Füßen, einen Haufen Netze fallen. Colin machte eine vage entschuldigende Geste, aber der Mann, schon wieder im Weggehen, verkündete deutlich: »Touristen!« und gab das Handzeichen -: Sondergenehmigung.
    Colin weckte Mary und überredete sie, mit ihm zum Krankenhauspier zu laufen. Wenn es dort kein Café gab, würde sie der Wasserbus durch die Kanäle zur Stadtmitte unweit ihres Hotels bringen.
    Als sie das imposante Pförtnerhaus erreichten, das den Eingang zum Krankenhaus bildete, legte der Wasserbus eben ab. Zwei junge Männer mit blauen Jacken, dunklen Brillen mit Silbergestell und identischen, bleistiftdünnen Schnurrbärten manövrierten das Boot. Der eine stand am Steuerrad bereit, während der andere geschickt-verächtlich aus dem Handgelenk das Anlegetau vom Poller wand; im letztmöglichen Moment stieg er über die breiter werdende Kluft öligen Wassers, löste mit derselben Bewegung die Stahlbarriere, hinter der sich die Passagiere drängten, und sicherte sie mit einer Hand, wobei er teilnahmslos auf den zurückfallenden Kai starrte und sich laut mit seinem Kollegen unterhielt.
    Ohne Diskussion wandten sich Colin und Mary landeinwärts und schlossen sich den Menschen an, die durch das Pförtnerhaus und eine steile, mit Blumensträuchern eingefaßte Auffahrt hinauf zum Krankenhaus strömten. Auf Schemeln saßen ältere Frauen, die Illustrierte, Blumen, Kruzifixe und Statuetten verkauften, doch

Weitere Kostenlose Bücher