Der Trost von Fremden
mir nichts aus, denn ich begann sofort, die Kochschokolade und die Sahnetorte zu essen und die Limonade zu trinken.
Meine Schwestern standen um den Tisch und sahen mir zu. ›Schmeckt es dir?‹ sagten sie, aber ich aß so schnell, daß ich kaum reden konnte. Ich dachte, sie seien vielleicht deshalb so gut zu mir, weil sie wußten, daß ich eines Tages Großvaters Haus erben würde. Nachdem ich die erste Flasche Limonade ausgetrunken hatte, nahm Eva die zweite vom Tisch und sagte: ›Ich glaube nicht, daß er die auch noch trinken kann. Ich werde sie wegstellen.‹ Und Maria sagte: ›Ja, stell sie nur weg. Bloß ein Mann könnte zwei Flaschen Limonade austrinken.‹ Ich schnappte ihr die Flasche weg und sagte: ›Natürlich kann ich sie austrinken‹, und die Mädchen sagten alle zusammen: ›Robert! Das ist unmöglich!‹ Also ließ ich von der Limonade natürlich nichts übrig und auch nichts von den beiden Tafeln Kochschokolade, von den Marshmallows und von der ganzen Sahnetorte, und meine vier Schwestern klatschten im Takt in die Hände. ›Bravo Robert!‹
Ich versuchte zu stehen. Die Küche fing an, sich um mich zu drehen, und ich mußte ganz nötig auf die Toilette. Aber plötzlich schlugen mich Eva und Maria zu Boden und hielten mich fest. Ich war zu schwach, um mich zu wehren, und sie waren viel größer. Sie hielten ein langes Seilende bereit und fesselten mir die Hände auf den Rücken. Alice und Lisa hopsten die ganze Zeit herum und sangen: ›Bravo Robert!‹ Dann zerrten mich Eva und Maria auf die Beine und stießen mich aus der Küche, über die große Diele und in das Arbeitszimmer meines Vaters. Sie zogen den Schlüssel innen ab, schlugen die Tür zu und verschlossen sie. ›Tschüs Robert‹, riefen sie durchs Schlüsselloch. ›Jetzt bist du der große Papa in seinem Arbeitszimmer.‹
Ich stand mitten in diesem gewaltigen Raum, unter dem Kronleuchter, und zuerst begriff ich nicht, wieso ich dort war, und dann verstand ich. Ich kämpfte mit den Knoten, aber sie saßen zu fest. Ich rief und trat gegen die Tür und bumste mit dem Kopf dagegen, doch das Haus schwieg. Auf der Suche nach einem Winkel rannte ich kreuz und quer durchs Zimmer, und in jeder Ecke waren teure Teppiche. Schließlich konnte ich nicht mehr anders. Die Limonade kam und wenig später, ganz flüssig, die Kochschokolade und die Torte. Ich trug kurze Hosen, so wie ein englischer Schuljunge. Und anstatt stehenzubleiben und nur einen Teppich zu ruinieren, rannte ich kreischend und heulend überall hin, so als wäre mir mein Vater bereits auf den Fersen.
Der Schlüssel drehte sich im Schloß, die Tür flog auf, und Eva und Maria kamen hereingestürmt. ›Puh!‹ riefen sie. ›SchnelI, schnell! Papa kommt.‹ Sie lösten das Seil, steckten den Schlüssel wieder von innen ins Schloß und liefen wie hysterische Frauen lachend davon. Ich hörte den Wagen meines Vaters in der Auffahrt halten.
Zuerst konnte ich mich nicht bewegen. Dann schob ich die Hand in meine Tasche und holte ein Taschentuch heraus, und ich ging zur Wand - ja, sogar an den Wänden war es, sogar auf seinem Schreibtisch - und genauso tupfte ich einen alten Perserteppich ab. Dann sah ich meine Beine, sie waren beinahe schwarz. Das Taschentuch nutzte nichts, es war zu klein. Ich lief zum Schreibtisch und nahm mir irgendein Papier, und so fand mich mein Vater, wie ich mir mit Staatsangelegenheiten die Knie abputzte, und hinter mir glich der Fußboden seines Arbeitszimmers einem Bauernhof. Ich machte zwei Schritte auf ihn zu, fiel auf die Knie und erbrach mich fast über seinen Schuhen, erbrach lange Zeit. Als ich aufhörte, stand er noch immer in der Tür. Er hielt noch immer seinen Aktenkoffer, und sein Gesicht verriet nichts. Er warf einen Blick auf mein Erbrochenes und sagte: ›Robert, hast du Schokolade gegessen!‹ Und ich sagte: ›Ja, Papa, aber...‹ Und das genügte ihm. Später kam mich meine Mutter in meinem Schlafzimmer besuchen, und morgens kam ein Psychiater und erzählte etwas von einem Trauma. Doch meinem Vater genügte es, daß ich Schokolade gegessen hatte. Er schlug mich drei Tage lang jeden Abend und hatte viele Monate kein gutes Wort für mich. Das Arbeitszimmer durfte ich viele, viele Jahre lang nicht mehr betreten, erst wieder, als ich mit meiner zukünftigen Frau dort eintrat. Und bis zum heutigen Tag esse ich nie Schokolade, und meinen Schwestern habe ich nie verziehen.
Während der Zeit meiner Bestrafung war meine Mutter die einzige, die mit
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