Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
Vom Netzwerk:
überwältigt von der neuen Erfahrung, in einer fremden Stadt jemanden wiederzuerkennen, und von der Faszination, zu sehen ohne gesehen zu werden.
    »Er hat uns nicht gesehen«, flüsterte Colin, doch wie auf ein Stichwort blieb Robert stehen, breitete die Arme weit aus und rief: »Meine Freunde!« Er schüttelte Colin die Hand und hob Marys an die Lippen.
    Sie lehnten sich zurück und lächelten ihn kraftlos an. Er hatte sich einen Stuhl organisiert und saß mit einem breiten Grinsen zwischen ihnen, so als seien mehrere Jahre und nicht nur wenige Stunden vergangen, seit sie sich getrennt hatten. Er rekelte sich in seinem Stuhl, hatte den Knöchel aufs Knie gelegt und präsentierte weiche, eierschalenfarbene Lederstiefel. Der schwache Duft seines Eau de Cologne, der so ganz anders war, als der seines Parfüms von letzter Nacht, verbreitete sich um den Tisch. Mary begann sich am Bein zu kratzen. Als sie ihm erklärten, daß sie bis jetzt noch nicht wieder im Hotel gewesen seien, daß sie auf der Straße geschlafen hätten, rang Robert entsetzt nach Luft und setzte sich kerzengerade hin. Auf der anderen Seite des Platzes war der erste Walzer unmerklich in einen zweiten übergegangen; in unmittelbarer Nähe riskierte das zweite Orchester einen ungelenken Tango: »Hernando’s Hideaway«.
    »Das ist meine Schuld«, rief Robert. »Ich habe Sie bis spät nachts mit Wein und meinen dummen Geschichten aufgehalten.«
    »Hör auf zu kratzen«, sagte Colin zu Mary; und zu Robert: »Überhaupt nicht. Wir hätten unsere Stadtpläne mitnehmen sollen.«
    Doch Robert war bereits auf den Beinen, seine eine Hand ruhte auf Colins Unterarm, die andere griff nach Marys Hand. »Ja, die Verantwortung trifft mich. Ich werde alles wieder gutmachen. Sie werden doch meine Gastfreundschaft annehmen.«
    »Oh, das geht aber nicht«, sagte Colin unbestimmt. »Wir wohnen im Hotel.«
    »Wenn man so müde ist, ist ein Hotel nicht gerade der geeignetste Ort. Ich werde Sie mit soviel Behaglichkeit trösten, daß Sie Ihre schreckliche Nacht vergessen werden.« Robert schob seinen Stuhl unter den Tisch, damit Mary vorbei konnte.
    Colin zupfte sie am Kleid. »Wart doch mal eine Sekunde...« Der kurze Tango holperte in sein Finale und wurde durch geschickte Modulation zu einer Rossini-Ouvertüre; aus dem Walzer war ein Galopp geworden. Auch Colin stand auf, er runzelte vor Anstrengung sich zu konzentrieren die Stirn. »Warte...«
    Doch Robert geleitete Mary durch die Lücken zwischen den Tischen. Ihre Bewegungen hatten die langsame Automatie einer Schlafwandlerin. Robert wandte sich um und rief Colin ungeduldig zu. »Wir nehmen ein Taxi.«
    Sie gingen vorbei am Orchester, vorbei am Uhrturm, dessen Schatten jetzt nurmehr ein Stumpf war, und weiter zum geschäftigen Uferbezirk, dem Brennpunkt der schäumenden Lagune, wo die Bootsführer Robert gleich zu erkennen schienen und verbissen um seine Kundschaft stritten.
Fünf
    Durch die halboffenen Läden warf die sinkende Sonne eine Raute orangefarbener Stäbe auf die Schlafzimmerwand. Vermutlich war es die Bewegung von Wolkenbüscheln, die die Stäbe verblassen und verschwimmen und dann wieder hell und scharf aufleuchten machte. Mary hatte ihnen eine volle halbe Minute zugesehen, ehe sie ganz wach war. Das Zimmer hatte eine hohe Decke, weiße Wände und war nicht vollgestellt; zwischen ihrem und Colins Bett stand ein zerbrechliches Bambustischchen, das einen Steinkrug und zwei Gläser trug; vor der anstoßenden Mauer war eine geschnitzte Truhe und darauf eine irdene Vase, in der überraschenderweise ein Zweig Judassilberlinge stak. Die trockenen, silbrigen Blätter raschelten in dem warmen Luftzug, der durch das halboffene Fenster ins Zimmer strömte. Der Fußboden schien aus einer einzigen unzerstückelten grün-braun gesprenkelten Marmorplatte gemacht zu sein. Mary setzte sich mühelos auf und stellte ihre bloßen Füße auf die eisige Fläche. Eine angelehnte Tür mit Schallbrettern führte in ein weißgekacheltes Bad. Eine zweite Tür, die, durch die sie eingetreten waren, war geschlossen, und an einem Messinghaken hing ein weißer Morgenmantel. Mary goß sich ein Glas Wasser ein; das hatte sie vor dem Einschlafen mehrmals getan; diesmal nippte sie nur daran, anstatt es hinunterzukippen, und sie setzte sich kerzengerade auf und streckte den Rücken so weit es ging und betrachtete Colin.
    Wie sie war er nackt und lag auf den Leintüchern, hüftabwärts flach auf dem Bauch, darüber ein klein wenig linkisch in

Weitere Kostenlose Bücher