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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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oben, schloß die Augen und begann tief durch die Nase zu atmen.
    Ein paar Minuten später hörte sie Colin mit von der Badezimmerakustik verkorkster Stimme mürrisch rufen: »Ich kann das nicht anziehen.« Sie öffnete die Augen, als er ins Zimmer kam. »Doch!« sagte Mary verwundert und durchquerte das Zimmer. »Du siehst wunderschön aus.« Sie zupfte ihm die Locken aus dem Rüschenkragen und tastete nach seinem Körper unter dem Stoff. »Du siehst aus wie ein Gott. Ich glaube, ich werde dich mit ins Bett nehmen müssen.« Sie zog ihn am Arm, doch Colin machte sich los.
    »Ein Morgenmantel ist das jedenfalls nicht«, sagte er, »das ist ein Nachthemd .« Er wies auf einen über seiner Brust eingestickten Blumenstrauß.
    Mary trat einen Schritt zurück. »Du hast ja keine Ahnung, wie gut du darin aussiehst.«
    Colin begann das Nachthemd auszuziehen. »Ich kann so unmöglich«, sagte er darunter hervor, »in einem fremden Haus herumlaufen.«
    »Nicht mit einer Erektion«, sagte Mary, als sie sich wieder ihrem Yoga zuwandte. Sie stand mit geschlossenen Füßen da, die Hände neben sich und beugte sich vor, um die Zehen zu berühren, bückte sich dann noch tiefer und legte Hände und Handgelenke flach auf den Boden.
    Colin stand mit dem Nachthemd über dem Arm da und sah ihr zu. »Das mit deinen Stichen ist ja erfreulich«, sagte er nach einer Weile. Mary grunzte. Als sie sich wieder hochgereckt hatte, ging er zu ihr.
    »Du mußt das anziehen«, sagte er. »Sieh dich mal um, was hier los ist.«
    Mary hüpfte in die Luft und landete mit weitgespreizten Beinen. Sie bog ihren Rumpf zur Seite, bis sie mit der linken Hand den linken Knöchel fassen konnte. Ihre Rechte war in die Luft gestreckt, und sie sah an ihr entlang zur Decke. Colin ließ das Nachthemd auf den Fußboden fallen und legte sich auf sein Bett. Es dauerte fünfzehn Minuten, bis Mary es aufhob und anzog, sich im Badezimmerspiegel das Haar richtete und mit einem schiefen Lächeln für Colin das Zimmer verließ.
    Sie tastete sich langsam vorwärts durch eine lange Galerie von Schätzen, Erbstücken, ein Familienmuseum, in dem ein Minimum an Wohnraum um die Schaustücke herumimprovisiert worden war, alles gewichtig ornamentierte, unbenutzte und liebevoll gehegte Einzelstücke aus dunklem Mahagoni, geschnitzt und poliert, spreizfüßig und samtgepolstert. In einer Nische zu ihrer Linken standen zwei Standuhren wie Wachtposten und tickten gegeneinander an. Selbst die kleineren Gegenstände, ausgestopfte Vögel unter Glasstürzen, Vasen, Obstschalen, Lampenständer, unbegreifliche Messing- und Schleifglasobjekte erschienen zu schwer zum Heben, auf ihren Platz gedrückt vom Gewicht der Zeit und verlorengegangener Geschichten. Eine Reihe von drei Fenstern längs der Westwand warf dieselben, jetzt verblassenden, orangen Stäbe, doch hier wurde das Dessin von abgewetzten, gemusterten Teppichbrücken unterbrochen. Im Zentrum der Galerie stand ein großer, polierter Eßtisch mit den dazupassenden hochlehnigen Stühlen drumherum. Am Ende dieses Tischs befanden sich ein Telefon, ein Notizblock und ein Bleistift. An den Wänden hingen mehr als ein Dutzend Ölgemälde, die meisten Porträts, ein paar wenige vergilbende Landschaften. Die Porträts waren einheitlich dunkel; düstere Kleider, verschwommen-trübe Hintergründe, vor denen die Gesichter der Gemalten wie Monde glühten. Zwei Landschaften zeigten, kaum erkennbar, blattlose Bäume, die dunkle Seen überragten, an deren Ufern schattenhafte Gestalten mit erhobenen Armen tanzten.
    Am Ende der Galerie waren zwei Türen, durch die eine waren sie eingetreten; sie waren unverhältnismäßig klein, nicht getäfelt und weißgestrichen, und sie vermittelten einem den Eindruck eines großen, in Wohnungen aufgeteilten Herrenhauses. Mary blieb vor einer Kredenz stehen, die zwischen zwei der Fenster an der Wand stand, ein Monster spiegelnder Flächen, dessen einzelne Schubladen jede einen Messingknauf in Form eines Frauenkopfs besaß. Alle Schubladen, die sie ausprobierte, waren abgesperrt. Obenauf war eine sorgfältig arrangierte Kollektion persönlicher, doch protziger Gegenstände: ein Tablett mit silberrückigen Haar- und Kleiderbürsten für Herren, ein dekorierter Rasiernapf aus Porzellan, mehrere, zu einem Fächer ausgelegte Rasiermesser, eine Reihe Pfeifen in einem Ebenholzgestell, eine Reitgerte, eine Fliegenklatsche, eine goldene Zündholzschachtel, eine Uhr an einer Kette. An der Wand hinter dieser Kollektion hingen

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