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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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ihre Richtung gekrümmt. Er hatte die Arme fötal über der Brust gekreuzt, und seine schlanken, unbehaarten Beine standen eine Spur auseinander, die Füße, ungewöhnlich klein wie die eines Kindes, zeigten einwärts. Die feinen Knochen seiner Wirbelsäule gingen in seinem Kreuz in eine tiefe Furche über, und entlang dieser Linie wuchs ein zarter Flaum, den das durch die Läden gedämpft einfallende Licht hervortreten ließ. Um Colins schmale Hüften gab es in der weißen Haut kleine Einkerbungen, wie Zahnabdrücke, die vom Gummizug in seiner Hose stammten. Seine Pobacken waren klein und straff wie bei einem Kind. Mary beugte sich vor, um ihn zu streicheln, und entschied sich um. Sie stellte statt dessen das Wasser auf dem Tisch ab und rückte näher, um sein Gesicht zu studieren, so wie das einer Statue vielleicht.
    Es war vorzüglich geschnitten, unter genialer Mißachtung der üblichen Proportionen. Das Ohr - nur eins war zu sehen - war groß und stand leicht ab; die Haut war so blaß und fein, beinahe durchscheinend, und die Ohrschnecke war viel öfter als gewöhnlich in unmögliche Windungen gefaltet; die Ohrläppchen waren ebenfalls lang, schwellend und konisch wie Tränen. Colins Brauen waren dicke Bleistiftstriche, die bis zu seinem Nasenrücken absanken und sich fast berührten. Geöffnet waren seine tiefliegenden Augen dunkel, und jetzt verschlossen sie graue, dornige Wimpern. Im Schlaf waren die grüblerischen Falten, die ihm die Stirn sogar beim Lachen furchten, gewichen und hinterließen nur ein kaum sichtbares Wasserzeichen. Die Nase war wie die Ohren lang, stand aber im Profil nicht hervor; sie lag vielmehr flach am Gesicht an, und an ihrer Spitze waren, wie Kommas, außergewöhnlich kleine Nasenlöcher eingegraben. Colins Mund war geradlinig und fest und nur andeutungsweise von Zähnen geteilt. Sein Haar war ungewöhnlich fein, wie das eines Babys, und schwarz, und es fiel ihm in Locken auf seinen schlanken, weiblichen Hals.
    Mary ging zum Fenster und machte die Läden weit auf. Das Zimmer lag genau zur untergehenden Sonne hin und schien vier oder fünf Stockwerke hoch zu sein, höher als die meisten der umgebenden Gebäude. Bei dem kräftigen Licht, das ihr direkt in die Augen fiel, war es schwierig, das Straßenschild unten zu erkennen und ihre relative Lage zum Hotel abzuschätzen. Das Gemisch von Schritten, Fernsehmusik, klapperndem Besteck und Geschirr, Hunden und unzähligen Stimmen drang wie von einem riesigen Orchester und Chor aus den Straßen herauf. Sie schloß leise die Läden und gab der Wand die Stäbe wieder. Angereizt durch die Großzügigkeit des Zimmers, den glänzenden, unverstellten Marmorboden, machte sich Mary an ihre Yoga-Übungen. Sie japste, als sie die Kälte des Fußbodens an ihren Pobacken spürte, und saß mit vor sich ausgestreckten Beinen und geradem Rücken da. Sie lehnte sich langsam und tief ausatmend nach vorn, faßte mit beiden Händen die Fußsohlen und beugte den Rumpf über die Beine, bis ihr Kopf auf den Schienbeinen lag. Sie verharrte mehrere Minuten in dieser Position, die Augen geschlossen, regelmäßig atmend. Als sie hochkam, setzte sich Colin auf.
    Noch benommen wanderte sein Blick von ihrem leeren Bett zum Muster an der Wand, zu Mary auf dem Fußboden. »Wo sind wir denn?«
    Mary legte sich auf den Rücken. »Weiß nicht so genau.«
    »Wo ist Robert?«
    »Keine Ahnung.« Sie hob die Beine über den Kopf, bis sie hinter ihr auf dem Fußboden ruhten.
    Colin stand auf und setzte sich gleich wieder. »Und wie spät ist es?«
    Marys Stimme klang dumpf. »Abends.«
    »Wie gehts deinen Stichen?«
    »Danke, sind weg.«
    Colin stand wieder auf, diesmal vorsichtig, und sah sich um. Er verschränkte die Arme. »Was ist mit unseren Kleidern passiert?«
    Mary sagte: »Keine Ahnung«, und hob die Beine über den Kopf zu einer Kerze.
    Colin tappte unsicher zur Badezimmertür und steckte den Kopf hindurch. »Hier drin sind sie nicht.« Er nahm die Vase mit den Judassilberlingen hoch und hob den Deckel der Truhe. »Hier auch nicht.«
    »Nein«, sagte Mary.
    Er setzte sich auf sein Bett und betrachtete sie. »Meinst du nicht, wir sollten sie finden? Beunruhigt dich das nicht?«
    »Mir gehts gut«, sagte Mary.
    Colin seufzte. »Schön, kümmere ich mich eben drum, was hier los ist.«
    Mary senkte die Beine und sagte zur Zimmerdecke hin: »An der Tür hängt ein Morgenmantel.« Sie arrangierte ihre Glieder so bequem wie möglich auf dem Boden, drehte die Handflächen nach

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