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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Klacken schicker Schuhe, dem Schlappen von Sandalen; und von Stimmen, ehrfürchtigem Gemurmel, Kindergeschrei, elterlichen Verboten. Mary verschränkte die Arme und ließ den Kopf sinken.
    Colin stand auf und winkte mit beiden Armen einem Ober, der nickte und sich auf sie zuzubewegen begann; unterwegs sammelte er Bestellungen und leere Gläser ein. »Kaum zu fassen«, rief Colin jubelnd.
    »Wir hätten sie mitnehmen sollen«, sagte Mary in ihren Schoß.
    Colin war noch immer auf den Beinen. »Er kommt tatsächlich!« Er setzte sich und zupfte sie am Handgelenk. »Was möchtest du haben?«
    »Es war gemein von uns, sie nicht mitzunehmen.«
    »Ich finde, es war ziemlich umsichtig.«
    Der Ober, ein großer, gutsituiert wirkender Mann mit einem dichten, ergrauenden Bart und einer Goldrandbrille, war plötzlich an ihrem Tisch und beugte sich mit leicht zusammengekniffenen Augenbrauen zu ihnen.
    »Was willst du, Mary?« flüsterte Colin drängend.
    Mary faltete die Hände im Schoß und sagte: »Ein Glas Wasser ohne Eis.«
    »Ja, zweimal «, sagte Colin beflissen »und...«
    Der Ober straffte sich und schnaubte kurz durch die Nase. »Wasser?« sagte er abweisend. Sein Blick wanderte zwischen ihnen und taxierte ihr schlampiges Äußeres. Er trat einen Schritt zurück und nickte in eine Ecke des Platzes. »Wasserhahn!«
    Als er gehen wollte, wirbelte Colin in seinem Stuhl herum und packte ihn am Ärmel. »Aber, Herr Ober, nein«, flehte er. »Wir wollten auch Kaffee und etwas...«
    Der Ober schüttelte seinen Arm frei. »Kaffee!« wiederholte er mit spöttisch geblähten Nasenflügeln. »Zwei Kaffee!«
    »Ja doch!«
    Der Mann schüttelte den Kopf und war verschwunden.
    Colin sackte in seinem Stuhl zusammen, schloß die Augen und schüttelte langsam den Kopf: Mary bemühte sich geradezusitzen.
    Sie stieß ihn unter dem Tisch sacht ans Bein. »Na komm. Es sind nur zehn Minuten bis zum Hotel.« Colin nickte, machte aber die Augen nicht auf. »Wir können duschen und auf unserem Balkon sitzen und uns alles, was wir möchten, raufbringen lassen.« Je weiter Colin das Kinn auf die Brust sackte, desto lebhafter wurde Mary. »Wir können ins Bett gehen. Mmmm, die sauberen, weißen Laken. Wir machen die Läden zu. Kannst du dir etwas Schöneres vorstellen? Wir können...«
    »Gut«, sagte Colin stumpf. »Gehen wir ins Hotel.« Aber keiner von beiden rührte sich.
    Mary spitzte den Mund und sagte dann: »Er bringt den Kaffee wahrscheinlich sowieso. Wenn die Leute hier den Kopf schütteln, kann das alles mögliche heißen.«
    Mit der wachsenden Morgenhitze hatten die Menschenmassen abgenommen, es gab jetzt genügend Tische, und diejenigen, die noch immer über den Platz liefen, waren entweder entschiedene Touristen oder Bürger mit echten Zielen, alles verstreute Gestalten, die vor der Ungeheuerlichkeit der freien Fläche zwergenhaft in der flirrenden Luft flimmerten. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes hatte sich das Orchester wieder eingefunden und intonierte einen Wiener Walzer; auf Colins und Marys Seite blätterte der Dirigent in einer Partitur, während die Musiker ihre Plätze einnahmen und sich die Noten auf den Pulten zurechtlegten. Eine der Folgen ihrer so großen gegenseitigen Vertrautheit war es, daß Mary und Colin häufig kommentarlos ein und dasselbe anstarrten; diesmal war es ein Mann, der mehr als fünfzig Meter entfernt mit dem Rücken zu ihnen stand. Sein weißer Anzug stach im grellen Licht hervor; er war stehengeblieben, um dem Walzer zuzuhören, In der einen Hand trug er eine Kamera, die andere hielt eine Zigarette. Er hatte das Gewicht auf einen Fuß verlagert, und sein Kopf bewegte sich im Takt mit dem simplen Rhythmus. Dann wandte er sich plötzlich wie gelangweilt ab, denn die Musik war nicht zu Ende, und schlenderte in ihre Richtung; unterwegs ließ er die Zigarette fallen und trat sie ohne hinzusehen aus. Er zog, ohne im Schritt innezuhalten, eine Sonnenbrille aus der Brusttasche und polierte sie kurz mit einem weißen Taschentuch, bevor er sie aufsetzte; jede seiner Bewegungen wirkte wie abgezirkelt. Trotz der Sonnenbrille, dem gutgeschnittenen Anzug und der hellgrauen Krawatte erkannten sie ihn gleich und verfolgten wie hypnotisiert sein Näherkommen. Es ließ sich nicht sagen, ob er sie gesehen hatte, doch jetzt hielt er direkt auf ihren Tisch zu.
    Colin ächzte. »Wir hätten ins Hotel gehen sollen.«
    »Wir sollten wegsehen«, sagte Mary, doch sie verfolgten weiter, wie er näherkam,

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