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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Jagdstiche, zumeist stürmende Pferde, die Vorder- und Hinterläufe gespreizt, die Reiter mit Zylindern.
    Mary war die Galerie in ihrer gesamten Länge abgeschritten - hatte Bögen um die größeren Stücke gemacht, angehalten, um in einen goldgerahmten Spiegel zu starren -, ehe sie das Auffälligste bemerkte. Glasschiebetüren an der Ostwand führten auf einen langen Balkon. Von ihrem Standort aus machte es das Licht der Kronleuchter schwer, in das Halbdunkel draußen zu sehen, doch eine große Überfülle an blühenden Pflanzen ließ sich eben noch erkennen, und Efeu, kleine Bäume in Kübeln und, Mary stockte der Atem, ein kleines, bleiches Gesicht, das sie aus den Schatten beobachtete, ein körperloses Gesicht, denn der Nachthimmel und der Widerschein des Zimmers im Glas machten es unmöglich, Kleidung oder Haare zu sehen. Es starrte sie weiterhin an, ohne zu blinzeln, ein vollkommen ovales Gesicht; dann glitt es zurück und zur Seite in die Schatten und verschwand. Mary atmete hörbar aus. Der widergespiegelte Raum bebte, als die Glastüren aufgingen. Eine junge Frau mit streng zurückgebundenem Haar betrat ein wenig steif den Raum und streckte die Hand aus. »Kommen Sie nach draußen«, sagte sie. »Es ist angenehmer dort.«
    Ein paar Sterne hatten schon den angeschlagenen Pastellhimmel durchbrochen, und dennoch ließen sich das Meer, die Anlegepfähle und sogar die dunklen Umrisse der Friedhofsinsel ganz leicht ausmachen. Direkt unterhalb des Balkons lag, zwölf Meter tiefer, ein verlassener Hof. Die geballten Topfblumen verströmten einen penetranten, fast ungesunden Duft. Die Frau ließ sich mit einem kleinen Schmerzenslaut in einem Segeltuchstuhl nieder.
    »Es ist schön«, meinte sie, so als ob Mary etwas gesagt hätte. »Ich verbringe so viel Zeit wie möglich hier draußen.« Mary nickte. Der Balkon erstreckte sich über die Hälfte der Raumlänge. »Ich bin Caroline. Roberts Frau.«
    Mary schüttelte ihr die Hand, stellte sich vor und nahm auf einem Stuhl ihr gegenüber Platz. Ein kleiner, weißer Tisch trennte sie, und darauf lag auf einem Teller ein einzelnes Biskuit. Im blühenden Efeu, der die Wand hinter ihnen bedeckte, zirpte eine Grille. Erneut starrte Caroline Mary so an, als könne sie selbst nicht gesehen werden; ihr Blick wanderte stetig von Marys Haar zu ihren Augen, zu ihrem Mund und hinunter bis dort, wo ihr der Tisch die Sicht behinderte.
    »Ist das Ihres?« sagte Mary und nahm den Ärmel des Nachthemds zwischen die Finger.
    Die Frage schien Caroline aus einem Tagtraum zu wecken. Sie setzte sich in ihrem Stuhl auf, faltete die Hände im Schoß und kreuzte die Beine, so als nähme sie eine wohlbedachte Gesprächspose ein. Als sie dann sprach, klang ihre Stimme gezwungen, ein wenig höhergedrückt als vorher. »Ja, ich habe es selbst gemacht, während ich hier draußen saß. Ich sticke gern.«
    Mary gratulierte ihr zu ihrer Arbeit, und dann folgte eine kleine Pause, in der Caroline verzweifelt nach etwas zu suchen schien, was sie sagen könnte. Mit einem nervösen Ruck registrierte sie Marys Blick, der das Biskuit streifte, und sofort hielt sie ihr den Teller hin. »Bitte, nehmen Sie doch.«
    »Danke.« Mary versuchte, das Biskuit langsam zu essen.
    Caroline beobachtete sie bang. »Sie müssen hungrig sein. Möchten Sie etwas zu essen?«
    »Ja, bitte.«
    Doch Caroline rührte sich nicht gleich. Dafür sagte sie: »Tut mir leid, daß Robert nicht hier ist. Er bittet Sie, ihn zu entschuldigen. Er ist in seine Bar gegangen. Natürlich geschäftlich. Heute abend fängt ein neuer Geschäftsführer an.«
    Mary sah von dem leeren Teller auf. »In seine Bar?«
    Caroline begann sich mit großer Mühe zu erheben, sie sprach offensichtlich unter Schmerzen. Als Mary ihre Hilfe anbot, schüttelte sie den Kopf. »Ihm gehört eine Bar. Das ist so eine Art Hobby, denke ich. Das Lokal, wo er Sie mit hingenommen hat.«
    »Er hat nie erwähnt, daß sie ihm gehört«, sagte Mary.
    Caroline nahm den Teller vom Tisch und ging zur Tür. Als sie dort war, mußte sie den ganzen Körper drehen, um Mary anzuschauen. Sie sagte indifferent: »Sie wissen mehr als ich, ich bin nie dort gewesen.«
    Fünfzehn Minuten später kam sie mit einem kleinen Weidenkorb wieder, der mit einem Stapel Sandwiches und zwei Gläsern Orangensaft beladen war. Sie schob sich auf den Balkon und ließ sich von Mary das Tablett abnehmen. Mary blieb stehen, während sich Caroline in ihren Stuhl niederließ.
    »Haben Sie sich am Rücken

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