Der Trost von Fremden
hin und zuckte die Achseln. »Ohne meine Brille kann ich nicht so weit sehen.« Sie hielt noch immer Marys Hand und wandte sich bereits zur Tür.
Sie gingen durch die Küche ins Schlafzimmer, das im Halbdunkel lag, weil die Läden geschlossen waren. Nach Carolines Schilderung dessen, was sich hier abgespielt hatte, wirkte der Raum nicht außergewöhnlich. Wie im Gästezimmer am anderen Ende der Galerie führte eine Tür mit Schallbrettern in ein gefliestes Bad. Das Bett war groß, ohne Kopfbrett oder Kissen, und mit einem blaßgrünen Tagesüberwurf zugedeckt, der sich glatt anfühlte.
Mary setzte sich auf die Bettkante. »Meine Beine tun weh«, sagte sie mehr zu sich als zu Caroline, die die Läden aufzog. Das Spätnachmittagslicht flutete ins Zimmer, und Mary merkte plötzlich, daß die ans Fenster grenzende Wand, die Wand hinter ihr, die sich über die ganze Breite des Betts erstreckte, eine großflächige, mit grünem Wollflanell bespannte Tafel trug, die über und über mit Fotos bedeckt war, die sich wie eine Collage überlappten, die meisten schwarzweiß, ein paar Polaroidbilder in Farbe, alle von Colin. Mary rutschte auf dem Bett entlang, um besser zu sehen, und Caroline kam und setzte sich dicht neben sie.
»Er ist sehr schön«, sagte sie leise. »Robert sah Sie beide rein zufällig an dem Tag, an dem sie ankamen.« Sie zeigte auf ein Bild von Colin, der neben einem Koffer stand, in der Hand einen Stadtplan. Er sprach über die Schulter mit jemand, vielleicht mit Mary, außerhalb des Bildes. »Wir finden ihn beide sehr schön.« Caroline legte den Arm um Marys Schultern. »Robert hat an diesem Tag eine Menge Bilder gemacht, aber das hier habe ich als erstes gesehen. Ich werde es nie vergessen. Er blickt gerade vom Stadtplan auf. Robert kam ganz aufgeregt nach Haus. Als er dann noch mehr Bilder mitbrachte« - sie wies auf die ganze Tafel -, »kamen wir uns wieder näher. Es war mein Einfall, sie hier aufzubauen, wo wir sie alle auf einmal sehen konnten. Wir lagen hier bis in den frühen Morgen und schmiedeten Pläne. Sie glauben ja gar nicht, was es alles zu planen gab.«
Während Caroline sprach, rieb sich Mary die Beine, mal massierend, mal kratzend, und studierte das Mosaik der vergangenen Woche. Es gab Bilder, deren Zusammenhang sie sofort verstand. Mehrere zeigten Colin auf dem Balkon, und zwar deutlicher als der grobkörnige Abzug. Es gab Bilder, auf denen Colin das Hotel betrat, ein anderes, wo er allein auf dem Café-Ponton saß, auf einem stand Colin in einer Menschenmenge, zu seinen Füßen Tauben, im Hintergrund der große Uhrturm. Auf einem lag er nackt auf einem Bett. Andere Bilder waren weniger leicht verständlich. Eine bei ganz schlechtem Licht gemachte Nachtaufnahme etwa zeigte Colin und Mary beim Überqueren eines menschenleeren Platzes. Im Vordergrund war ein Hund. Auf einigen Bildern war Colin ganz allein zu sehen, auf einigen trennte die Ausschnittvergrößerung Mary an der Hand oder am Ellbogen ab, oder ließ nur eine sinnlose Gesichtshälfte zurück. Zusammengenommen schienen die Bilder jeden vertrauten Ausdruck gebannt zu haben, das grüblerische Stirnrunzeln, die zum Sprechen gekräuselten Lippen, der durch Liebkosungen so leicht zu besänftigende Blick, und jedes einzelne Bild hielt einen anderen Aspekt dieses zarten Gesichts fest und schien ihn zu verherrlichen die Brauen, die sich in einem Punkt trafen, die tiefliegenden Augen, der lange, gerade Mund, der nur eben vom Schimmer eines Zahns geteilt wurde. »Warum?« sagte Mary schließlich. Ihre Zunge war dick und schwer und lag ihren Worten im Weg. »Warum?« wiederholte sie mit größerer Entschiedenheit, doch weil sie plötzlich die Antwort kannte, kam ihr das Wort als Flüstern von den Lippen. Caroline drückte Mary fester an sich und fuhr fort. »Und dann brachte Robert Sie mit nach Haus. Es war so, als hätte Gott seine Hand mit im Spiel. Ich kam in das Schlafzimmer. Das habe ich Ihnen nie verheimlicht. Da wußte ich, daß die Fantasien in die Realität übergingen. Haben Sie das je erlebt? Es ist so, als ob man einen Spiegel betritt.«
Mary fielen die Augen zu. Carolines Stimme entfernte sich von ihr. Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, und versuchte aufzustehen, aber Carolines Arm lag fest um sie. Ihre Augen fielen wieder zu, und sie sagte Colins Namen. Ihre Zunge wog zu schwer, um sie um das »l« herumzuheben, es brauchte mehrere Leute, die halfen, sie zu bewegen, Leute, deren Namen kein »l« hatten. Carolines
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