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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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aufgeschlagen.« Sie sammelte auf dem Zeigefinger Blut von ihrer Unterlippe und verschmierte es auf Colins Lippen. Er ließ sie gewähren. Roberts Hand lag noch immer an seinem Halsansatz, dicht bei der Kehle. Caroline strich sich solange Blut auf die Fingerspitzen, bis Colins Lippen ganz und gar rotgeschminkt waren. Dann preßte Robert Colin den Unterarm auf die Brust und küßte ihn inbrünstig auf den Mund, und als er dies tat, strich Caroline mit der Hand über Roberts Rücken. Als er sich aufrichtete, spie Colin mehrmals laut aus. Caroline wischte ihm mit dem Handrücken die rosa Speichelfäden vom Kinn. »Dummer Junge«, flüsterte sie.
    »Was haben Sie Mary gegeben?« sagte Colin gelassen. »Was wollen Sie?«
    »Wollen?« sagte Robert. Er hatte irgend etwas von seiner Kredenz genommen, hielt aber die Hand darum geschlossen, und Mary konnte nicht sehen, was es war. »Wollen ist kein sehr gutes Wort.«
    Caroline lachte entzückt. »Und brauchen auch nicht.« Sie trat von Colin zurück und sah über die Schulter zu Mary. »Noch munter?« rief sie. »Erinnern Sie sich an alles, was ich Ihnen erzählt habe?«
    Mary schaute auf den Gegenstand, den Robert mit der Hand umklammerte. Plötzlich war er doppelt so lang, und sie sah ihn ganz deutlich, und obwohl sich jeder Muskel in ihrem Körper zusammenkrampfte, ballten sich nur die Finger ihrer rechten Hand ein klein wenig. Sie schrie und schrie wieder, und alles was herauskam, war ein flüsterndes Aushauchen.
    »Ich tue alles, was Sie wollen«, sagte Colin, der bei diesem Laut seine Gelassenheit ganz verloren hatte, mit vor Panik lauter werdender Stimme. »Aber bitte, holen Sie für Mary einen Arzt.«
    »Na schön«, sagte Robert und griff nach Colins Arm und drehte den Handteller nach oben. »Hier, so einfach ist das«, sagte er, vielleicht zu sich selbst, als er das Rasiermesser, leicht, beinahe spielerisch über Colins Handgelenk zog und die Schlagader weit öffnete. Sein Arm ruckte vor, und das Seil, das er warf, orangefarben in diesem Licht, verfehlte Marys Schoß um etliche Zentimeter.
    Marys Augen schlossen sich. Als sie sie öffnete, saß Colin auf dem Fußboden, an der Wand, die Beine vor sich ausgespreizt. Seltsamerweise waren seine Stoffstrandschuhe durchtränkt, scharlachverfleckt. Sein Kopf schwankte auf den Schultern, doch seine Augen waren ruhig und klar und leuchteten sie durch den Raum ungläubig an. »Mary?« sagte er ängstlich, wie jemand, der in einem dunklen Zimmer ruft. »Mary? Mary?«
    »Ich komme«, sagte Mary. »Ich bin hier drüben.«
    Als sie wieder aufwachte, nach einem endlosen Schlaf, lehnte sein Kopf an der Wand, und sein Körper war geschrumpft. Seine Augen, noch immer offen, noch immer auf sie gerichtet, waren müde, ausdruckslos. Sie sah ihn aus großer Entfernung, obwohl ihr Blick alles andere ausschloß, sitzend vor einem kleinen Teich, der vor der Raute aus Lichtstäben errötete, die die Läden warfen, die jetzt halb geschlossen waren.
    Die ganze folgende Nacht hindurch träumte sie von Gestöhn und Gewimmer und plötzlichen Rufen, von umschlungenen Gestalten, die sich zu ihren Füßen rollten und sich tollten in dem kleinen Teich und vor Wonne schrien. Sie wurde von der Sonne geweckt, die hinter ihr über dem Balkon aufging und ihr durch die Spiegelglastüren den Nacken wärmte. Es war viel, viel Zeit vergangen, denn die zahlreichen Fußspuren quer über den Fußboden waren rostrot und die Koffer bei der Tür fort.
    Ehe sie die Kiesauffahrt zum Krankenhaus hinaufging, machte Mary halt, um sich im Schatten des Pförtnerhauses auszuruhen. Der ermattete junge Beamte an ihrer Seite war geduldig. Er stellte seinen Aktenkoffer hin, setzte die Sonnenbrille ab und polierte sie mit einem Taschentuch aus seiner Brusttasche. Die Frauen bauten ihre Stände auf und waren für die ersten Morgenbesucher bereit.
    Ein zerbeulter Lastwagen mit Wellblechseiten belieferte die Verkäuferinnen mit Blumen, und etwas näher räumte eine Frau Kruzifixe, Statuetten und Gebetbücher aus der Reisetasche einer Fluggesellschaft und stellte sie auf einem Klapptisch auf. Weiter weg, vor den Krankenhaustüren, sprengte ein Gärtner die Auffahrt, um den Staub zu binden. Der Beamte räusperte sich leise. Mary nickte, und sie gingen wieder weiter.
    Es hatte sich herausgestellt, daß sich in der überfüllten Stadt eine blühende, weitverzweigte Bürokratie versteckte, eine verborgene Ordnung von Regierungsbehörden mit separaten, aber sich überlappenden

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