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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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überdeckt vom Geruch der Rasierseife und seines Parfüms. Noch heute ist Eau de Cologne für mich der Geruch meines Vaters.
    Ich war sein Liebling, ich war seine ganze Leidenschaft. Ich erinnere mich an einmal - vielleicht geschah es viele Male, - meine älteren Schwestern Eva und Maria waren vierzehn und fünfzehn. Es gab Abendessen, und sie flehten ihn an. Bitte, Papa. Bitte! Und zu allem sagte er nein! Sie durften nicht mit zu der Schulbesichtigung, weil dort Jungens sein würden. Es wurde ihnen nicht gestattet, Seidenstrümpfe zu tragen. Sie durften nachmittags nicht ins Theater gehen, es sei denn, ihre Mama ginge auch. Sie durften ihre Freundin nicht hierbehalten, weil sie einen schlechten Einfluß ausübe und nie die Kirche besuche. Dann stand mein Vater plötzlich laut lachend hinter meinem Stuhl, auf dem ich neben meiner Mutter saß. Er nahm mir das Lätzchen vom Schoß und stopfte es mir vorne ins Hemd. ›Seht her!‹ sagte er. ›Hier ist das nächste Familienoberhaupt. Vergeßt nicht, euch mit Robert gut zu stellen!‹ Dann ließ er mich die Debatte schlichten, und die ganze Zeit lag seine Hand hier auf mir und quetschte mir mit den Fingern das Genick. Mein Vater sagte dann: ›Robert, dürfen die Mädchen Seidenstrümpfe anziehen, so wie ihre Mutter?‹ Und ich, zehn Jahre alt, sagte dann sehr laut: ›Nein, Papa.‹- ›Dürfen sie ohne ihre Mama ins Theater gehen?‹ - ›Auf keinen Fall, Papa.‹ - ›Robert, dürfen sie ihre Freundin hierbehalten?‹ -›Niemals, Papa!‹
    Ich antwortete stolz, ohne zu wissen, daß ich benutzt wurde. Dies geschah vielleicht nur einmal. Für mich könnte es jeder Abend meiner Kindheit gewesen sein. Dann ging mein Vater zu seinem Stuhl am Kopfende des Tisches zurück und tat so, als sei er sehr traurig. ›Es tut mir leid, Eva, Maria, ich wollte es mir gerade anders überlegen, aber jetzt sagt Robert, daß diese Dinge nicht sein dürfen.‹ Und er lachte, und ich lachte dann auch, ich glaubte alles, jedes Wort. Ich lachte, bis mir meine Mutter die Hand auf die Schulter legte und sagte: ›Pst jetzt, Robert.‹
    Also! Haßten mich meine Schwestern? Von dem was jetzt kommt, weiß ich, daß es nur einmal geschah. Es war Wochenende, und das Haus war für den ganzen Nachmittag leer. Ich ging mit eben den beiden Schwestern, Eva und Maria, ins Schlafzimmer unserer Eltern. Ich setzte mich aufs Bett, und sie gingen an den Schminktisch meiner Mutter und kramten all ihre Sachen heraus. Zuerst lackierten sie sich die Fingernägel und wedelten sie in der Luft trocken. Sie taten sich Cremes und Puder aufs Gesicht, sie benutzten Lippenstift, sie zupften sich die Augenbrauen und tuschten sich die Wimpern. Sie befahlen mir, die Augen zuzumachen, während sie ihre weißen Socken abstreiften und Seidenstrümpfe aus der Schublade meiner Mutter anzogen. Dann standen sie da, zwei wunderschöne Frauen, und musterten einander. Und eine Stunde lang liefen sie im Haus herum, blickten über die Schulter in Spiegel oder Fensterscheiben, drehten sich in der Mitte des Salons im Kreis oder saßen sehr achtsam auf der Kante des Armsessels und ordneten ihre Haare. Ich folgte ihnen überallhin und schaute sie die ganze Zeit an, schaute sie einfach nur an. ›Sind wir nicht schön, Robert?‹ sagten sie dann. Sie wußten, ich war schockiert, weil dies nicht meine Schwestern waren, dies waren amerikanische Filmstars. Sie waren von sich selbst hingerissen. Sie lachten und küßten einander, denn jetzt waren sie richtige Frauen.
    Später am Nachmittag gingen sie ins Badezimmer und wuschen sich alles ab. Im Schlafzimmer räumten sie all die Töpfe und Tiegel weg und öffneten die Fenster, damit Mama ihr eigenes Parfüm nicht riechen würde. Sie falteten die Seidenstrümpfe und Strumpfhaltergürtel genauso zusammen, wie sie es bei ihr gesehen hatten. Sie schlossen die Fenster, und wir gingen hinunter, um darauf zu warten, daß unsere Mutter nach Haus kam, und ich war die ganze Zeit ganz aufgeregt. Plötzlich waren aus den schönen Frauen wieder meine Schwestern geworden, große Schulmädchen.
    Dann kam das Abendessen, und ich war noch immer aufgeregt. Meine Schwestern benahmen sich so, als sei nichts gewesen. Ich merkte, daß mein Vater mich fixierte. Ich blickte auf, und er sah mir geradewegs durch die Augen hindurch in mein Innerstes. Er legte sehr langsam Messer und Gabel beiseite, kaute und schluckte, was er im Mund hatte, und sagte: ›Erzähl mir mal, Robert, was habt ihr heute nachmittag gemacht?‹

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