Der Turm der Könige
stolze Dame verkleidete, denn seit einigen Wochen entblätterte er sie wie eine Margerite.
Julia sehnte den Anbruch der Nacht herbei. Jeden Abend, wenn alles im Dunkeln lag und im Haus nur noch das Murmeln der Stille zu hören war, schlich sie sich vorsichtig in die Kammer ihres jungen Geliebten. León empfing sie freudig und drückte sie an seinen Körper. Er küsste sie auf den Mund, spielte mit ihrer Zunge, nahm ihr den Atem. Hinter ihr stehend, öffnete er mit verblüffender Geduld die schier endlose Reihe kleiner Knöpfe, die ihr Trauerkleid verschlossen, einen nach dem anderen, vom Hals bis zur Taille. Dann schob er den Stoff sanft beiseite und streichelte mit den Fingerspitzen über die feine Unterwäsche, sein Verlangen bezähmend, indem er diesen Moment hinauszögerte. Er vergrub sein Gesicht in Julias Haar und sog tief die Luft ein, um in ihrem Duft zu versinken, bevor er seine Lippen auf ihren Nacken und die weißen Schultern presste, die inzwischen vor Erwartung bebten. Vorsichtig zog er die Haarnadeln heraus, die den Knoten hielten, so dass sich das Haar in schwingenden Spiralen aufrollte, während er aufmerksam auf den Atem der Frau achtete, um genau den Moment abzupassen, in dem sie vor Verlangen danach verging, mit ihm in die Laken zu sinken.
Nachdem sie sich geliebt hatten, sah er sie immer lange an. Ohne Kleidung wirkte sie gar nicht mehr streng. Im Kerzenschein, ohne das gnadenlose Tageslicht, glänzten Julias Wangen wie polierte Pfirsiche. Man musste sie in diesen intimen Momenten sehen, ihre empfindsame Haut, wenn sie sich mit gesenkten Lidern, den Mund leicht geöffnet, rhythmisch unter ihm bewegte, um ihre wahre weibliche Schönheit zu erkennen.
Julia konnte Leóns eindringlichem Blick nicht länger widerstehen und wandte sich ihm zu, während sie Mamita Lula fragte, ob sie mit dem Essen fertig sei.
»Ja, Herrin.«
»Dann lass uns allein.«
Die Dienerin stand mit sevillanischer Gemächlichkeit auf, legte die Serviette beiseite, faltete sie sorgfältig, räumte das Geschirr ab und stellte die leeren Teller zusammen, die Schokoladentassen, die Suppenschüssel.
»Du kannst später abräumen«, drängte Julia. »Geh jetzt, tu mir den Gefallen.«
Mamita Lula sah sie argwöhnisch an. Sie kannte ihre Herrin, seit diese ihre ersten unsicheren Schritte gemacht hatte, und bemerkte ihre Ungeduld. Dann ging sie davon, wobei sie etwas von Leidenschaften murmelte, die wie ein laues Lüftchen sind, das sich in einen Sturm verwandelt. Julia wartete, bis sie die Tür ins Schloss fallen hörte.
»Was hältst du davon zu heiraten?«, fragte sie dann ohne Umschweife, in demselben Ton, in dem sie mit den Angestellten der Druckerei zu sprechen pflegte.
»Die Leute werden reden«, erwiderte León überrascht.
»Die reden immer.«
Sie war sich der Macht des Klatsches durchaus bewusst, der Macht des äußeren Scheins. Man hatte ihr beigebracht, den Eltern zu gehorchen, höflich zu den Mitmenschen zu sein, keusch, anständig, aufrichtig und zuvorkommend aufzutreten. Sie war dazu erzogen worden, so zu sein, wie die anderen es von ihr erwarteten, und ihre eigenen Wünsche zugunsten der Erwartungen jener zurückzustellen, die mehr Autorität hatten als sie, was im Falle einer jungen Frau fast alle waren.
Sie erinnerte sich noch genau an den heißen Frühlingstag, an dem sich alles geändert hatte. Sie war soeben siebzehn Jahre alt geworden und besaß die glückliche Unbedarftheit derer, die keine Erwartungen ans Leben stellen. Sie schnitt gerade Gladiolen und Rosen im elterlichen Garten, die sie in die Blumenvasen im Salon stellen wollte, damit der Frühling auch im Haus Einzug hielte. Mamita Lula half ihr dabei, doch in diesem Moment hatten sich die beiden in ein Spiel vertieft; sie knufften einander, verfingen sich im Efeu, rutschten auf der feuchten Erde aus und bespritzten sich mit Wasser, lauthals lachend wie zwei Bauernmädchen. Als sie mit erhitzten Wangen und noch immer lachend in den Salon kam, sah sie einen Mann im Alter ihres Vaters, der wie aufgezogen vom Sofa hochschnellte und ihr mit der einen Hand einen Strauß Nelken und mit der anderen eine Schachtel Schokolade entgegenstreckte.
»Dieser Herr ist Don Diego López de Haro, mein Liebling«, sagte ihre Mutter zu ihr. »Erinnerst du dich an ihn? Ihm gehört die Druckerei. Vor kurzem ist seine Frau gestorben, die Ärmste. Weißt du noch? Sie hat dir die Gedichtbändchen geschenkt, als du kleiner warst. Wir waren bei der Beerdigung.« Angesichts
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