Der Turm der Könige
folgten immer wieder kleinere Nachbeben, die die Stadt schüttelten wie einen Fieberkranken. Der Bürgermeister versuchte, die Bevölkerung zu beruhigen, indem er versicherte, dass die Bewegungen lediglich zeigten, wie sich die Erde allmählich wieder beruhigte. Doch die Menschen hatten Angst und stürzten bei der geringsten Erschütterung auf die Straße, wo sie mit tränenerstickten Stimmen um Gnade flehten. Die Heiligen Justa und Rufina, die Schutzpatroninnen der Töpfer, wurden zu Heldinnen erklärt. Viele versicherten, gesehen zu haben, wie sie auch diesmal die Giralda gestützt hätten, wie schon bei dem Beben von 1504, und dass der Turm nur deshalb widerstanden habe. Die bekanntesten Künstler machten sich daran, das Wunder auf Gemälden, in Holz und Stein sowie auf Teppichen und Schmuckfliesen festzuhalten. So blieben sie der Nachwelt erhalten, zyklopenhaft groß, die Giralda überragend, mit Tonkrügen zu ihren Füßen und Palmwedeln in den Händen.
Die Bevölkerung von Sevilla, die nur zu gerne bereit war, göttliche Erklärungen für irdisches Unglück zu suchen, richtete den Blick gen Himmel. Die Kirche verkündete öffentlich, dass es sich bei dem Erdbeben um eine Warnung Gottes gehandelt habe. Offensichtlich sei der Allmächtige erbost über den Verfall der Sitten, über die unzüchtige Kleidung, welche die Mädchen in letzter Zeit trügen, und über die Ruchlosigkeit der jungen Burschen, die sich ihre Zeit mit Trinken und Scherzen vertrieben, was im Widerspruch zur christlichen Mäßigung stünde. Die Geistlichen erklärten, dass man Gott für seine Güte danken müsse, weil er eine Mahnung in Gestalt eines Erdbebens geschickt habe, statt ohne Vorwarnung eine Sintflut zu senden wie zu Noahs Zeiten. Und so beschloss man, eine Gedenkstele mit dem Bildnis der Muttergottes und dem Kinde zu errichten, und zwar neben dem Südflügel der Kathedrale, auf der Plaza de Lonja. Es war genau der Ort, wo Pater Zacarías nach dem Beben die Messe zu Ende gelesen hatte. Sie bekam den Namen »El Triunfo«, bekrönt von einem mächtigen Kreuz. Auf dem steinernen Sockel stand geschrieben:
Am Samstag, dem
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. November anno 1755, um zehn Uhr morgens, geschah ein großes, entsetzliches Beben, welches die Stadt heimsuchte und ihre Bewohner unter sich begrub, denn die Gebäude wurden auf das Fürchterlichste erschüttert, deren manche einstürzten, sowie auch ein Teil der Kirchen. In der hohen Kathedrale regnete es Steine von den Gewölben, Pfeiler des Turms stürzten ein. Trotz der großen Beschädigungen kam niemand zu Schaden. In ganz Sevilla starben nur sechs Personen, die übrigen kamen mit dem Leben davon, welches die Stadt der Schutzherrschaft der allerbarmherzigsten Mutter Maria zu verdanken hat, zu deren Ehre und in immerwährender Dankbarkeit die hochwürdigen Herren des Rates dieses Denkmal errichten ließen, an jener Stelle, da an besagtem Tag die Messe gelesen und die Sixt gefeiert wurden.
***
DAS GESCHIRR , DAS JULIA als Mitgift in die Ehe mitgebracht hatte und das einen Wert von vierzigtausend Reales besaß, war durch das Erdbeben in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Dessertteller waren heil geblieben, des Weiteren einige Tassen, eine große Schüssel und die Suppenterrine; der Deckel hingegen war in der Mitte entzweigebrochen. Trotzdem trug Mamita Lula bei Tisch mit derselben Sorgfalt auf wie immer. An diesem Tag, einige Wochen nach dem Erdbeben, servierte sie die Suppe in Schokoladentassen, beginnend mit der Herrin, dann folgten León und schließlich sie selbst. Julia wartete, bis sich die Dienerin gesetzt hatte. Dann faltete sie die Hände, schloss die Augen und dankte Gott für die Speisen, die sie in den wenigen Geschirrteilen erhielten, die ihnen geblieben waren. Als sie zu Ende gesprochen hatte, breitete sie die Serviette über die Knie und begann zu löffeln.
Julia war nervös, denn sie hütete ein Geheimnis. Das größte und aufregendste Geheimnis ihres ganzen Lebens. Ihre Hände zitterten. Sie versuchte, sich auf ein Stückchen hartgekochtes Ei zu konzentrieren, das perfekte Kreise auf der Oberfläche der Suppe zog, aber es gelang ihr nicht. Sie spürte Leóns Blick auf sich ruhen. Der junge Mann beobachtete sie mit einem versonnenen Lächeln auf den Lippen. Er sah die Schönheit, die sich hinter ihrer abweisenden Miene, ihren schwarzen Kleidern und ihrer strengen Frisur verbarg. Für ihn war es ein Leichtes, kraft seiner Phantasie die Attribute zu übersehen, mit denen sie sich am Tage als
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