Der Turm der Könige
Habseligkeiten geschultert. Der Regen der vergangenen Nacht war einem sonnigen Tag gewichen, der seine übernächtigten Augen blendete. Wie benommen ging er vom Haus seiner Schwiegereltern zur Wohnung des »Alten Weisen«. Ein unerträgliches Gewicht lastete auf seiner Brust und hinderte ihn daran, normal zu atmen. So trottete er schwer atmend vor sich hin und schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Vor der Haustür angekommen, betätigte er dreimal den Türklopfer. Ein Dienstmädchen öffnete ihm, und er ging grußlos die Treppe hinauf. Er kannte den Weg.
»Ich bringe diesen Satansbraten um«, wetterte er zur Begrüßung.
Fernando Álvarez saß an seinem Schreibtisch. Er schrieb gerade einen Artikel über die Entdeckung des Leichnams des heiligen Augustinus, den er am nächsten Tag an die Druckerei liefern musste. Als er das Gepolter hörte, nahm er den Zwicker ab und sah Cristóbal ungnädig an.
»Guten Tag. Was führt dich her?«
»Jetzt ist der Moment gekommen, auf den wir gewartet haben. Ich bringe ihn persönlich um, mit meinen eigenen Händen!«
»Cristóbal, Cristóbal …« Fernando Álvarez sprach ganz leise und ruhig. »Du bist zu aufbrausend. Du musst lernen, dich zu beherrschen. Diese Wutanfälle haben dich schon öfter in des Teufels Küche gebracht, erinnerst du dich? Du weißt doch, in diesem erregten Zustand kannst du nicht klar denken und verdirbst alles. Tot nützt uns der Junge nichts. Schon gar nicht jetzt …« Er räusperte sich, bevor er fortfuhr. »Dein Sohn Cristo war heute früh bei mir. Er sagte mir, dass Abel de Montenegro gestern Nacht zu später Stunde die Komturei San Juan de Acre aufgesucht habe. Das bestätigt unsere Vermutungen. Umso mehr müssen wir ihn beschatten, jeden seiner Schritte überwachen, beobachten, mit wem er spricht, wohin er geht … Wir müssen die Spielregeln finden und sie vernichten, bevor die anderen sie finden. Abel de Montenegro ist unsere einzige Spur. Wir dürfen ihn nicht aus den Augen lassen.«
»Ich weiß jetzt, mit wem dieser Dreckskerl seine Zeit verbringt und wohin er geht«, schnaubte Cristóbal, unfähig, seine Schmach zu verbergen. »Er entehrt nachts meine Tochter in meinem eigenen Haus. Nun, vielmehr war es das einmal. Jetzt habe ich kein Zuhause mehr. Meine Schwiegereltern haben mich hinausgeworfen.«
Der »Alte Weise« erhob sich von seinem Stuhl und ging im Zimmer auf und ab wie ein Schauspieler auf einer Bühne.
»Seneca sagt, es sei besser, sich in Geduld zu üben, als der Rache nachzugeben. Wie lange währt die Befriedigung, wenn du ihm einen tödlichen Messerstich verpasst? Ein, zwei Minuten …« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist nicht sehr viel, mein Freund. Zu wenig für eine lebenslange Kränkung. Denk daran, Rache ist eine Speise, die mit Bedacht genossen werden will. Man muss die besten Gewürze auswählen, und sie auf kleiner Flamme im Höllenfeuer köcheln lassen. Denk darüber nach! Wir sollten klug sein und einen Weg suchen, Vorteil aus dem Geschehenen zu ziehen.«
Während er sprach, ging er zu einer Vitrine, nahm eine Kristallflasche heraus, goss zwei Gläser Schnaps ein und reichte Cristóbal eines davon. Der Druckermeister leerte es in einem Zug und spürte, wie es in seinen Eingeweiden brannte. Sein Gastgeber schenkte ihm nach.
»Wenn du meinen Anweisungen folgst«, sprach Fernando Álvaro weiter, »wirst du langen Genuss an deiner Vergeltung haben. Du wirst dich nicht nur an diesem Jungen rächen, der deine Tochter entjungfert hat, sondern auch an León de Montenegro. Du wirst alle Mühen zunichtemachen, denen er sein kurzes Leben gewidmet hat … seinen ganzen Daseinszweck. Erscheint dir das nicht erhabener und erfüllender?«
Cristóbal trank das Glas aus. Dieser Schluck bekam ihm wesentlich besser als der erste, auch wenn sich sein Blick trübte und er husten musste, weil seine Kehle brannte. Er war sich nicht sicher, ob er diese Meinung über den erhabenen Genuss teilte, den eine ausgefeilte Rache verschaffte. Er fand es männlicher, Genugtuung in gut platzierten Fausthieben, Fußtritten und Strömen warmen Blutes zu suchen. Obwohl dieser gelehrte Mann ihm seit Jahren versicherte, dass sie in einem Boot säßen, und ihn als Verbündeten und Freund bezeichnete, fühlte sich Cristóbal Zapata im Grunde seines Herzens immer unterlegen, wenn Fernando Álvarez mit ihm sprach.
Der Druckermeister war an den Umgang mit den grobschlächtigen, weinseligen Kerlen im Punta del Diamante
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