Der Turm der Könige
müssen die Gegner eine Reihe von Gegenständen vorweisen. Der christliche Spieler wird ein Malteserkreuz um den Hals tragen« – Abel fasste sich unbewusst an die Brust – »und der muslimische Spieler einen Halbmond. Sie werden einen Raum betreten, in dessen Mitte lediglich ein Schachbrett steht. Alle Figuren sind aufgestellt, nur zwei Felder bleiben frei. Es fehlen zwei Läufer: ein schwarzer und ein weißer. Die Auserwählten müssen sie mitbringen. Bevor diese beiden Figuren nicht auf dem Brett stehen, kann die Partie nicht beginnen.«
»Ein Läufer«, flüsterte Abel.
»Ja, Abel, ein jahrhundertealter Läufer, der sich in der Obhut unseres Ordens befindet. Wir vertrauten ihn den besten, den fähigsten Spielern an. Er gehört zu einem antiken Schachspiel, das einzigartig ist auf der Welt. Es ist so alt, dass der Läufer noch nicht als Bischof dargestellt ist.«
»Ein elfenbeinerner Elefant«, sagte der Junge.
Er hatte ganz vergessen, dass er ihn in seiner rechten Hand hielt. Nun betrachtete er die Figur und stellte fest, dass er sie so fest umklammert hatte, dass sich seine Abdrücke in der Handfläche abzeichneten.
»Und der muslimische Spieler bringt einen Elefanten aus Ebenholz mit. Verstehst du jetzt, Abel? Wenn wir das Originaldokument finden, wird es deine Aufgabe sein, die entscheidende Partie zu spielen.« Bruder Dámaso seufzte. »Wir brauchen dich. Du bist der Auserwählte der weißen Partei. Deshalb hat Monsieur Verdoux solchen Wert auf deine Schachausbildung gelegt.«
»Ihr wollt mich zwingen, mich eurer Sache anzuschließen?«
»Niemand zwingt dich zu etwas. Du hast die Wahl: Du kannst ein gewöhnliches Leben leben oder aber eine Spur in der Geschichte hinterlassen. Wenn du dich für uns entscheidest, musst du wissen, dass wir volle Hingabe verlangen. Die Weitergabe geistiger Dinge, Geheimnisverrat, Feigheit und Betrug sind schwere Vergehen für uns. Aber im Gegenzug für so viel Aufopferung wirst du Teil von etwas ganz Besonderem sein.«
Abel sah ihn sprachlos an, und Bruder Dámaso fuhr fort.
»Einer Sage zufolge fand ein Krieger eines Tages ein Adlerei. Er hob es auf und legte es in ein Hühnernest. Als der Adler schlüpfte, sah er ringsum Küken, die er für seine Geschwister hielt. Er wuchs heran, ohne zu wissen, dass er ein anderes Gefieder, majestätische Schwingen und einen kräftigen Schnabel hatte. Er pickte nach Insekten und Körnern und floh, wenn der Fuchs kam. Er lernte nie zu fliegen. Eines Tages sah er einen riesigen Raubvogel am endlos blauen Himmel kreisen und fragte das Huhn, das er für seine Mutter hielt, wie dieser herrliche Vogel hieße. Ein Adler, antwortete sie und riet ihm, nicht länger hinzusehen, da er nie so werden könne wie dieser. Der Adler, der sich für ein Huhn hielt, fügte sich seufzend in sein Schicksal und pickte weiter nach Würmern und Körnern. Er starb in der festen Überzeugung, ein Huhn zu sein.«
Bruder Dámaso verstummte und wartete, dass seine Worte die gewünschte Wirkung auf Abel zeigten. »Wenn du willst, zeige ich dir deine Wurzeln und erkläre dir, wer du bist. Du wirst bald achtzehn Jahre alt, nicht wahr? Möchtest du die Flügel ausbreiten und mit uns fliegen?«
Der Junge schwieg eine Weile. Die letzten Augenblicke im Leben seines Vaters kamen ihm wieder in den Sinn, die verzweifelten Tränen seiner Mutter, die Trauer, die monatelang über der Druckerei gelegen hatte und die immer wiederkehrte, wenn sich der Unglückstag jährte. Er dachte an Julita, daran, dass sie irgendwann dieselbe Verzweiflung durchmachen könnte, an diese tiefe, warme, sanfte, tröstliche Liebe, die ihn bei jeder Trennung schier umbrachte und zu neuem Leben erweckte, wenn sie sich wiedersahen.
Abel war nicht bereit, das alles für eine jahrhundertealte Angelegenheit aufs Spiel zu setzen, mochte sie auch noch so ehrenwert sein. Ihm kam diese ganze Geschichte von schachspielenden Königen in diesem Moment sehr fremd vor. Und dann hörte er seine eigene Stimme von weither, als wäre es nicht er selbst, der diesen Satz sagte.
»Es tut mir leid«, sagte er und hielt Bruder Dámaso den elfenbeinernen Elefanten entgegen. »Ich bin sicher, ihr werdet jemanden finden, der diesen Auftrag erfüllen kann. Ich habe eine andere Aufgabe, bei der mich niemand ersetzen kann.«
Bruder Lorenzo schnaubte kräftig. »Hab ich’s doch gesagt … Von wegen Adler. Dieser Junge ist durch und durch ein Huhn. Und er gackert, wenn man mich fragt.«
Bruder Dámaso hielt den
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