Der Turm der Könige
Samtsäckchen mit dem elfenbeinernen Elefanten aus seiner Soutane und schob es in die Maueröffnung. Dann verschloss er sie wieder mit dem Ziegelstein, und alles sah so aus wie zuvor. Nichts wies darauf hin, dass dort ein Geheimversteck war. Abel sah sich nach einem Hinweiszeichen um, entdeckte aber nichts.
»Wie finden wir den Elefanten wieder, wenn wir ihn holen wollen?«, fragte er.
»Nun«, antwortete Bruder Dámaso. »Wenn du aufgepasst hast, wirst du bemerkt haben, dass wir auf unserem Weg einer gewissen Ordnung gefolgt sind. Wir sind durch die Tür aus der Bibliothek gekommen. An der ersten Weggabelung sind wir schräg nach rechts gegangen und dann geradeaus. An der zweiten Gabelung schräg nach links und dann geradeaus, an der dritten wieder schräg nach rechts …«
»… und dann geradeaus«, fiel Abel ihm ins Wort. »Wie ein Springer beim Schach, der abwechselnd nach rechts und nach links zieht.«
»Sehr gut!«
»Aber wie oft haben wir das gemacht?«
»Achtmal. Wie die acht Spitzen des Malteserkreuzes, das du um den Hals trägst, jenes Kreuz, das die Ritter vom heiligen Johannes von Jerusalem über ihrem schwarzen Gewand tragen. Acht wie die Zahl, die im Motto des Wappens von Sevilla erscheint, das nichts anderes ist als ein Wortspiel aus zwei Silben: NO und DO , und dazwischen eine Acht, die ein Wollknäuel symbolisiert.«
»Eine Acht«, wiederholte Abel leise.
»Ja. Als sich Sancho gegen seinen Vater Alfons X. erhob, brachte er den größten Teil des spanischen Adels hinter sich. Nur Sevilla hielt dem weisen König die Treue. Um der Stadt seine Dankbarkeit zu bezeugen, gestattete er der Stadt, die Silben NO und DO im Wappen zu führen und dazwischen ein Wollknäuel –
madeja
– in Form einer Acht, so dass man lesen kann:
NO madeja
DO – no me ha dejado
– ›Sie hat mich nicht verlassen‹. Sevilla hat den König nie im Stich gelassen«, sagte Bruder Dámaso feierlich. »Du weißt also, was zu tun ist, wenn du den elfenbeinernen Elefanten holen musst und ich nicht dabei bin. Du musst nur daran denken: acht Züge mit dem Springer, abwechselnd rechts und links, ausgehend von der Bibliothek.«
***
NACH MEHREREN VERZÖGERUNGEN begannen schließlich die Arbeiten am Fußboden im Chor der Kathedrale. Der Dekan Ignacio Ceballos hatte in seinem Testament eine halbe Million Reales zu diesem Zweck hinterlassen; trotzdem musste der Erzbischof einen weiteren Teil dazugeben. Insgesamt beliefen sich die Kosten auf über dreihunderttausend Pesos. Wie Monsieur Verdoux gesagt hatte, war eine große Anzahl von Mitgliedern des Johanniterordens bei den Bauarbeiten zugegen.
Im Laufe der nächsten Wochen wurde Abel de Montenegro zu einem erfahrenen Beobachter, der jeden Stein und jedes Gitter genau in Augenschein nahm, die Schnitzereien des Chorgestühls, die Heiligenstatuen, die Kruzifixe. Mit offenen Augen durch diese Kirche zu gehen, war, als läse man die Geschichte der Stadt, der Christenheit und der ganzen Menschheit. In jenen Tagen zwischen den steinernen Mauern formte sich Abels Charakter heraus: fest und unbeugsam wie der Stein selbst.
Er lernte, Baupläne zu lesen, und konnte schon bald den exakten Ort bestimmen, von dem der Schlussstein am Tag des Erdbebens herabgestürzt war. Von diesem Moment an warteten sämtliche Ordensbrüder angespannt darauf, dass die Arbeiten weit genug voranschritten, um zu der betreffenden Stelle zu gelangen, die sich ergab, wenn man eine lotrechte Linie vom Gewölbe zum Boden zog.
Doch die Arbeiten zogen sich dahin. Dem Domkapitel fiel ständig etwas Neues ein, zusätzliche Details wurden hinzugefügt und mit weiterem Beiwerk ausgeschmückt. Die Wochen zogen ins Land, und das Warten wurde unerträglich. Doch schließlich erreichten die Arbeiter eines Morgens die Stelle, auf die sie gewartet hatten. Nachdem sie die schwarzweißen Fliesen entfernt hatten, die durch zweifarbigen Marmor ersetzt werden sollten, den das Kapitel aus den Steinbrüchen von Macael hatte kommen lassen, ließ der Bauleiter, ein Laienbruder des Johanniterordens, die Arbeiten bis zum nächsten Tag ruhen.
Bruder Dámaso, Monsieur Verdoux und Abel nutzten die Verschwiegenheit der Nacht, um ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Sie kamen mit ihren Werkzeugen durch die Puerta de los Palos, jenes Portal, das auch León vor Jahren benutzt hatte, um sich im Schutz der Dunkelheit in die Kirche zu schleichen. Dann begaben sie sich auf direktem Wege zu dem Loch im Fußboden, das die Arbeiter am Morgen
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