Der Turm der Könige
Familie vergessener Gegenstände verwandelt hatte. Die diffuse Dunkelheit wurde nur von dem schwachen Licht erhellt, das durch die runde Dachluke fiel, deren Glas voller Dreck und Schlieren war. Staubkörner schwebten in der Luft und gaben dem Raum etwas von einem Zauberwald aus dem Märchen. Abel fand wieder Gefallen am Tagträumen und an Karten von verborgenen Welten. Er brachte seiner Tochter bei, das Firmament durch Großvater Nepomucenos Teleskop zu betrachten. Und er zeigte ihr den Stern, auf dem die Menschen ihren Platz hatten, die in den Himmel gekommen waren.
Der Dachboden wurde schnell zum Lieblingsort des Mädchens. Es machte ihr wenig aus, dass dort im Sommer Temperaturen wie im Backofen herrschten. Guiomar fand in den aufgetürmten alten Möbeln, den Truhen und den bedruckten Papierbögen, den Hutschachteln und den Kleiderbügeln, auf denen abgetragene Mäntel hingen, die Magie einer fremden Welt. Dorthin zog sie sich zurück, um zu lesen, und dort lebten ihre unsichtbaren Freunde. Der Dachboden war ihr großes Geheimnis, und er war nur zehn Schritte von ihrem Zimmer entfernt.
Am Abend ging Abel zu ihr hoch, um sie zuzudecken, bevor sie einschlief.
»Erzähl mir eine Geschichte, Papa«, sagte Guiomar dann.
Er sah er sie aus zusammengekniffenen Augen an und fragte mit geheimnisvoller Stimme: »Was ist dir lieber, Guiomar? Eine Geschichte für kleine oder eine für große Kinder?
»Eine für große Kinder.«
Dann lächelte er, räusperte sich und begann, ihr von einem Jungen zu erzählen, der von Janitscharen entführt wurde, von ständig zeternden Urgroßmüttern, die sich nur zu gern einen Kirschlikör hinter die Binde kippten, von exzentrischen Verwandten, die tote Seelen auf Sternen sahen, und von Schachpartien über Jahrhunderte hinweg, bei denen mächtige Könige das aufs Spiel setzten, was ihnen das Liebste war. Abel de Montenegro erzählte diese Geschichten so, als wäre er wirklich dabei gewesen, denn nachdem er so viele Bücher gedruckt hatte, war er zu einem begabten Erzähler geworden. So eindringlich beschrieb er die Farben und Gerüche auf den Schlachtfeldern, dass das Mädchen förmlich spüren konnte, wie sich die Kugeln glühend heiß ins Fleisch bohrten. Als Rosario mitbekam, dass die nächtlichen Albträume ihrer Tochter mit den Geschichten zusammenhingen, die ihr Mann dem Mädchen vor dem Schlafengehen erzählte, verbot sie ihm diese.
Irgendwann beschloss Abel, dass Guiomar nun alt genug sei, um richtigen Unterricht zu erhalten und nicht nur die Lektionen des Lebens, die sie zu Hause lernte. Er war der Überzeugung, dass Bildung für Frauen ebenso wichtig war wie für Männer. Dennoch weigerte er sich entschieden, sie zur Schule zu schicken, so gut deren Ruf auch sein mochte. Die Erinnerung an seine eigene Kindheit war nach wie vor in seinem Kopf präsent. Deshalb bat er Monsieur Verdoux um seine Dienste, der immer noch genauso viel Geschick und Geduld im Umgang mit Kindern hatte wie in jungen Jahren.
Von ihm lernte Guiomar, die bislang einfach in den Tag hinein gelebt hatte, Französisch und Klavierspielen. Sie lernte, mit einem Buch auf dem Kopf zu gehen und beim Kaffeetrinken den kleinen Finger abzuspreizen. Und sie lernte, dass alle Menschen gleich waren und dieselben Rechte und Möglichkeiten haben sollten. Wogegen Monsieur Verdoux nichts auszurichten vermochte, war die Neigung des Mädchens, in Phantasiewelten zu flüchten. Guiomar träumte den ganzen Tag vor sich hin, und nachts schlafwandelte sie. Man musste ein Glöckchen am Knauf ihrer Schlafzimmertür anbringen, damit man hörte, wenn sie das Bett verließ, und sie aufhalten konnte, bevor sie die Treppe hinunterfiel. Sie geisterte nachts um drei durch den Flur, mit glasigen Augen und zerwühltem Haar, ihre Lieblingspuppe in der Hand, den Daumen im Mund. Man musste sie ganz vorsichtig ins Bett zurückbringen, denn der Arzt hatte gesagt, dass sie sich zu Tode erschrecken könne, wenn man sie aus diesem Trancezustand weckte.
»Dieses Mädchen hat sämtliche Eigenheiten der Familie geerbt«, sagte Rosario besorgt.
»Und über die Familie hinaus«, entgegnete Abel, denn das Mädchen hatte sich auch der Katzen auf dem Dach angenommen und brachte ihnen jeden Tag Wasser und Futter, wie Julita es früher getan hatte.
Eines Tages beschloss Monsieur Verdoux, ihr die Grundbegriffe des Schachspiels beizubringen. Er wollte, dass sie ihren Verstand schulte und lernte, vorausschauend zu denken. Er wischte den Staub von dem
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