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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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rieb sich die Augen. Sie war barfuß und trug ein dünnes weißes Nachthemd mit cremefarbenen Tupfen. Ihre blonden Locken wurden von einem Band zusammengehalten. Cristo hörte ihre leichten Schritte auf dem Boden und blickte nach oben. Vom Patio aus fiel sein Blick auf die nackten Füße des Mädchens. Er konnte die Fersen sehen, die zierlichen Knöchel. Für einen kurzen Moment glaubte er, die sanfte Kurve ihrer Waden zu erahnen, und er spürte ein flaues Gefühl im Magen.
    »He!«, zischte er ihr mit strenger Miene zu. »Was machst du da?«
    Guiomar, die noch in einem Alter war, in dem der strenge Ton eines Erwachsenen einschüchternd wirkt, wurde rot. Cristo hatte nie direkt mit ihr gesprochen. Er hatte ihr nie zugelächelt, ihr nie in die Wange gekniffen oder zugezwinkert. Er war ihr gegenüber stets so gleichgültig gewesen, dass sie das Gefühl hatte, für diesen Mann Luft zu sein. Sie umfasste mit beiden Händen das Geländer und sah ihn an.
    »Ich kann nicht schlafen«, flüsterte sie, um das restliche Haus nicht aufzuwecken.
    »Aber du musst schlafen«, antwortete er und versuchte, ein freundliches Lächeln aufzusetzen. Doch es blieb bei einer verkrampften Grimasse. »Komm, ich bringe dich ins Bett.«
    Cristo stieg mit klopfendem Herzen die Treppenstufen hinauf. Er wusste, dass er dort nichts zu suchen hatte und Erklärungen würde geben müssen, wenn ihn jemand entdeckte. Das Mädchen sah ihn an, die Hände noch immer um das Geländer geklammert. Auf gleicher Höhe mit ihr angekommen, blickte er auf sie herab. Sie war so klein und zart, dass er sie ohne weiteres hätte hochheben und in den Patio werfen können. Noch bevor sie auf dem Springbrunnen aufschlagen würde, wäre er wieder unten. Niemand würde etwas mitbekommen. Niemand würde ihm die Schuld geben. Er legte seinen linken Arm um den Rücken des Mädchens, den rechten unter ihre Knie und hob sie hoch. Sie wog nicht viel. Er spürte ihre zarten Rippen, die er mit einer Handbewegung hätte zerquetschen können. Er nahm den Duft nach Seife und frischer Wäsche wahr, der von ihr ausging, und ein schmerzliches Gefühl verschleierte seine Augen. Er sah sie lange an. Seine Beine zitterten, und sein Kinn bebte.
    »Ist dir kalt?«, fragte das Mädchen.
    »Gehen wir ins Bett«, sagte er entschlossen.
    Durchflutet von Begierde, ging er die Galerie entlang, voller Angst, entdeckt zu werden, erregt von der Berührung ihres Nachthemds, das seine Beine streifte. Er betrat das rosafarbene Kinderzimmer. Das Bett sah aus wie ein Sahnetörtchen, und dieses Mädchen daraufzulegen war, als setzte man eine Kirsche obenauf. Guiomars Knie waren entblößt, und Cristo streckte die Hand aus, um das Nachthemd darüberzuschieben, auch wenn er im Grunde seines Herzens wusste, dass er eigentlich ihre Beine berühren wollte. Er packte den Saum des Nachthemds und streifte es über ihre weiche Haut, bis hinunter zu den nackten Füßen.
    Dann ergriff er Guiomars Fuß und begann, ihn langsam zu streicheln. Er schloss die Augen, schmiegte den Kopf an ihren Fuß und ließ keuchend seinen halbgeöffneten Mund darüber wandern. Dann nahm er ihre kleinen Zehen zwischen seine Lippen und ließ seine Zunge darübergleiten.
    »Diese Berührung ist schlecht, Señor«, hörte er das Mädchen plötzlich unerwartet bestimmt sagen.
    Cristo erwachte aus seiner Trance und blickte auf, um sie anzusehen. Sie war ernst und machte ein finsteres Gesicht, das ihn ein wenig an Abel erinnerte, wenn er wütend war. Er stand auf und stürzte aus dem Zimmer. Sein Blut kochte, sein Mund war trocken, seine Hände zitterten, und sein Herz war voller Hass. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße. In der Eile bemerkte er nicht, dass Monsieur Verdoux im Patio saß. Der französische Lehrer sah nicht mehr gut, aber es kam ihm so vor, als wäre Cristo aus Guiomars Zimmer gekommen. Er beschloss, von nun an sehr genau auf die Schritte dieses Mannes zu achten.

16 Der Escorial
    Du sitzt vor einem Schachbrett, und plötzlich macht dein Herz einen Satz. Deine Hand zittert, während du nach einer Figur greifst, um sie zu ziehen. Aber beim Schach lernst du, dass man die Ruhe bewahren und darüber nachdenken muss, ob das wirklich eine gute Idee ist oder ob es noch andere, bessere Möglichkeiten gibt.
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    D ie Nachricht, dass Napoleon Bonaparte im Mai 1798 zu einem Eroberungsfeldzug nach Ägypten aufgebrochen war, brachte einige Unruhe in die literarischen

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