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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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Schachtisch mit den Intarsienarbeiten, den ihr Großvater León von Julia zur Hochzeit bekommen hatte, und zeigte ihr, wozu die einzelnen Figuren dienten und wie man sie zog. Es ging ihm nicht darum, in Guiomar die Leidenschaft für Schach zu wecken, denn er war der Ansicht, dass dieses Spiel nichts für Frauen wäre. Er wollte nur, dass das Mädchen Spaß daran hatte und mit der Zeit genug Übung bekam, damit er gegen sie spielen konnte, ohne sich allzu sehr zu langweilen, bevor er sie besiegte.
    Doch Guiomar erwies sich schon bald als hervorragende Schachspielerin. Mit sechs Jahren war sie bereits in der Lage, ihren Vater in Bedrängnis zu bringen, und mit acht Jahren besiegte sie ihren Lehrmeister. Sie besaß einen unbedingten Siegeswillen, der Abel völlig fehlte. Guiomar hasste es, zu verlieren. Monsieur Verdoux war begeistert, als er das bemerkte, und begann, sie mit anderen Augen zu betrachten. Für ihn war Guiomar das einzige Mädchen mit der Kämpfernatur einer Kriegerin. Rosario diskutierte oft mit ihm deswegen.
    »Schach ist eine versteckte Form der Aggression. Ein Duell, das sich als harmloser Zeitvertreib gibt. Es bedeutet, Gott zu spielen!«, schimpfte die Mutter. »Ganz nach Belieben über eine kleine Welt bestimmen, über das Schicksal anderer entscheiden, in eine Schlacht eingreifen … das kann nicht gut sein für ein kleines Mädchen«, sagte sie, besorgt über die Fortschritte ihrer Tochter.
    Guiomar spielte stundenlang gegen Monsieur Verdoux, aber auch gegen sich selbst. Dabei war sie äußerst diszipliniert, denn das Schachspiel machte ihr großen Spaß. Sie fand, dass man mit den schwarzen und weißen Figuren auf dem Spielbrett mehr erleben konnte als im wirklichen Leben.
    ***
    GUIOMAR WAR ERST SIEBEN JAHRE ALT, als Candela dem Mädchen den Unterschied zwischen einer ehrlich gemeinten Berührung und einer mit Hintergedanken zu zeigen begann.
    »Sie sind sich ziemlich ähnlich, mein Sonnenschein, also nimm dich in Acht«, sagte sie, und dann: »Man spürt es hier.« Sie deutete in die Magengegend. »Wenn du das Gefühl hast, dass eine Berührung nicht in Ordnung ist, dann ist sie auch nicht in Ordnung. Achte auf die Hände der Männer. An ihnen zeigt sich ihre wahre Persönlichkeit.«
    Im Laufe der Jahre hatte Candela völlig vergessen, wer sie der Familie Montenegro vorgestellt hatte. Wenn sie die Druckerei betrat, begrüßte sie Cristo so gleichgültig, als wäre er nur einer von den vielen Angestellten, die im Haus arbeiteten. Es versetzte ihm jedes Mal einen Stich, und er hasste sie dafür aus tiefster Seele. Voller Groll beobachtete er von Ferne, dass sie sich in eine feine Dame mit behandschuhten Händen und Lederkoffern verwandelt hatte. Das dürre Mädchen, das im Punta del Diamante getanzt und dabei seine bloßen Schultern und Knöchel gezeigt hatte, war nicht mehr wiederzuerkennen. Nur manchmal blitzte noch ihr Zigeunertemperament in ihren schrägstehenden Augen auf, und ihr Muttermal neben dem stets geschminkten Mund zog sich verschmitzt nach oben.
    Eines Morgens sah er Candela wie eine feine Dame in einem der grünsamtenen Fauteuils im großen Salon sitzen, umgeben von glattpolierten Eichenmöbeln und Seidentapeten. Der Kachelofen, auf dem die griechischen Musen dargestellt waren, und darüber das Porträtgemälde von Doña Julia mit Turca auf dem Schoß, das den gesamten Raum beherrschte – dieser Salon beinhaltete alles, was die Familie ausmachte: kostbar gebundene Bücher, Teppiche in warmen Farben, elfenbeinerne Figürchen, Vitrinen voller Silbergeschirr …
    Man hatte ihm noch nie erlaubt, einen Fuß in den großen Salon zu setzen. Candela hingegen nahm diesen Raum mit der größten Selbstverständlichkeit in Anspruch. Ihr gegenüber saß die kleine Guiomar, die er ebenfalls hasste, einfach deshalb, weil sie Abel de Montenegros Tochter war.
    An diesem Nachmittag, zur Zeit der Mittagsruhe, sah er Guiomar allein die Galerie im ersten Stock entlanggehen. Cristo war ein paar Mal im Obergeschoss des Hauses gewesen. Er erinnerte sich, dass er als Kind hin und wieder mit seiner Schwester Julita und Abel auf dem Dachboden gewesen war. Auch am Tag der Überschwemmung war er die Treppe hinaufgestürzt, als er den Schrei hörte, den Doña Julia ausstieß, nachdem sie die tote Mamita Lula entdeckt hatte. Aber er hatte es nie gewagt, unaufgefordert nach oben zu gehen.
    Es war gegen vier Uhr nachmittags, alle schliefen. Das Mädchen war anscheinend gerade aufgewacht, denn es gähnte und

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