Der Turm der Könige
Verehrern im Schlepptau, die sie elegant abblitzen ließ. Man munkelte, der Sohn eines angesehenen Madrider Rechtsanwalts habe sich aus Verzweiflung in den Manzanares gestürzt, weil sie ihn nicht erhört hatte. Glücklicherweise war die Strömung so harmlos, dass der junge Mann lediglich ein bisschen Wasser schluckte. Mit triefnasser Kleidung und beflecktem Stolz zog man ihn an Land, wo er lautstark nach einer Pistole verlangte, die man ihm natürlich nicht gab.
***
BRUDER DÁMASO GING MITTLERWEILE auf die siebzig zu, doch seine Augen blitzten wie die eines jungen Mannes. Er war nicht dicker geworden und hatte auch keine Haare verloren, und er war für alles Neue zu begeistern. Zusammen mit Monsieur Verdoux bildete er ein geistreiches Gespann. Die beiden konnten stundenlang hitzig diskutieren, ganz gleich, wie banal das Thema sein mochte.
»Ja, ja, Monsieur Verdoux. Sie können sagen, was Sie wollen, aber dass man in den Bergen Fossilien von Meeresbewohnern gefunden hat, ist ein unstrittiger Beweis dafür, dass die Geschichten, von denen die Bibel berichtet, historisch wahr sind. Ganz offensichtlich befanden sich diese Zonen einmal unter Wasser. Es kann kein Zweifel bestehen: Noah baute die Arche, und die Sintflut überschwemmte die Erde.«
»
Mon dieu
! Es wundert mich, dass Ihr mit Eurer Intelligenz nicht auf eine einfachere Lösung gekommen seid. Ist es nicht viel logischer, dass die Menschen, die auf Pilgerschaft, Kreuzzügen und Handelsfahrten diese Wege bereisten, die Muschelschalen wegwarfen, nachdem sie sie zuvor in Sherry und mit gehacktem Knoblauch gekocht hatten?«, fragte er und lachte dann aus vollem Halse.
Seit sie in der Kapitelbibliothek den Kodex der
Siete Partidas
entdeckt hatten, verfolgte Bruder Dámaso die Spur der kompletten Auflage dieses Werkes. Aber es war eine wirklich schwierige Aufgabe. Er erstellte eine Liste sämtlicher Bibliotheken des Landes und schrieb dann an die Verantwortlichen mit der Bitte, ihm eine Liste ihrer Bestände zukommen zu lassen. Er sei auf der Suche nach einer Ausgabe der
Siete Partidas
, die Anfang des 16. Jahrhunderts in der Druckerei López de Haro erschienen sei. Aber nicht alle Bibliotheken besaßen eine Bestandsliste, und darüber hinaus war die Kommunikation auf dem Landweg sehr langsam, insbesondere in diesen bewegten Zeiten.
Während sie auf Antwort warteten, trafen sie sich zum Schachspielen, entweder im Patio der Druckerei oder im Krak des Chevaliers, und verhielten sich wie eine Gruppe von Freunden, die einfach die Gesellschaft der anderen genoss. Manchmal ließ diese Vertrautheit, die an Familiarität grenzte, sie vergessen, was sie ursprünglich zusammengeführt hatte. Doch dann traf ein Brief von muslimischer Seite ein, der Fragen stellte, Forderungen, und mit der falschen Ruhe war es vorbei, und ihr Schicksal holte sie wieder ein.
***
DANK DER AUFMERKSAMKEIT, die man ihr widmete, der ständigen Betriebsamkeit im Haus, in dem Ordensbrüder, Angestellte und Dienstmädchen ein- und ausgingen, und ihrer Neigung zum Fabulieren verbrachte Guiomar ihre Kindheit wie in einer Wattewolke, in der sie sicher und geborgen war. Abel betete seine Tochter geradezu an. Er war ein großer schlanker Mann mit grünblauen Augen unter buschigen, schwarzen Brauen, die ihn stets ein wenig finster aussehen ließen. Er trug seit jeher eine Löwenmähne, die mittlerweile an den Schläfen ergraut war und die er vergeblich mit Kamm und Wasser zu bändigen versuchte. Er stürmte mit großen Schritten durch die Werkstatt und erteilte Anweisungen an die Angestellten. Seine laute Stimme hallte so fest und unerschütterlich von den Wänden wider, dass die Schwalben im Patio erschraken und aufgeregt herumflatterten.
Da er größer war als die meisten, war er gezwungen, von oben auf die Leute herabzusehen, was ihm zusammen mit der Vehemenz, mit der er in Gesprächen seine Meinung vertrat, den Ruf verschaffte, arrogant zu sein. Aber in Gegenwart des Mädchens war er sanft und liebevoll. Er sorgte sich, wenn sie Fieber hatte, und bestaunte jeden Entwicklungsschritt, den sie machte, und sei es nur, dass sie gelernt hatte, die Schuhe zu binden. Er nutzte die Tatsache, dass Guiomar ihn ebenfalls anhimmelte und jeden seiner Sätze als Credo nahm, um ihr seine Leidenschaft für enzyklopädische Wörterbücher nahezubringen.
Außerdem öffnete Abel ihr die Türen zur verborgenen Welt des Dachbodens, der sich nach all den Jahren der Vernachlässigung in ein düsteres Mausoleum von der
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