Der Turm der Könige
Zirkel der Druckerei. Angeblich zog Napoleon mit einer großen Anzahl an Wissenschaftlern, Kunstverständigen und Ägyptologen ins Land der Pharaonen, um alles dort einer eingehenden Betrachtung durch ihre Gelehrtenaugen zu unterziehen. Sie verlangten von den Einheimischen, dass sie auf der Suche nach Schätzen die Pyramiden auf den Kopf stellten, während sie selbst sich vor der sengenden afrikanischen Sonne in den Schatten zurückzogen, mit dem Fächer wedelten, Limonade schlürften und darauf achteten, nicht allzu weit durch die Wüste zu laufen, damit kein Sand in die Schuhe kam. Dank ihrer Bemühungen konnte man hinterher in Paris einen Obelisk aufstellen und den Louvre mit Sitzstatuen von Schriftgelehrten, Mumien, Hieroglyphen und Sphingen bestücken.
Ägypten gehörte zum Osmanischen Reich, was Napoleons wirtschaftlichen Interessen entgegenstand, da es auf dem Weg nach Indien lag. Um sich die Eroberung zu erleichtern, veröffentlichte Bonaparte eine Proklamation, in welcher er sich selbst als Befreier des von den Osmanen unterjochten ägyptischen Volkes darstellte. Da er wusste, dass das nicht genügen würde, suchte er das Gespräch mit den islamischen Schriftgelehrten und lobte öffentlich die Gebote des Islam. Er versicherte, Weise und Gelehrte aus aller Welt versammeln zu wollen, um eine Regierung unter seiner Leitung zu bilden, die sich an den Grundlagen des Korans orientierte. Doch der Versuch schlug fehl, das ägyptische Volk betrachtete die Franzosen dennoch als Besatzungsmacht und somit als Eindringlinge.
Im »Krak des Chevaliers« erfuhr man früher als anderswo von Napoleons Plänen, denn auf ihrem Weg nach Ägypten hatte die Expedition Malta angelaufen. Der Großmeister des Ordens berichtete, dass Napoleons Männer zu dem Kloster gekommen seien, in dem Abels Vater aufgewachsen war, und um Erlaubnis gebeten hätten, ihre Schiffe im Hafen festzumachen und frisches Wasser aufzunehmen.
Doch einmal im Hafen, gebärdeten sie sich wie hungrige Wölfe. Nach vier Tagen war die zweihundertachtundsechzigjährige Herrschaft des Malteserordens beendet. Die Franzosen vertrieben die Mönche und bemächtigten sich der Insel samt aller Ländereien, Pfründen, Kirchen, des Palasts, der Juwelen und des Geldes. Napoleon gab Befehl, das Silber einzuschmelzen und zu Barren zu gießen, die leichter zu transportieren waren, und verlangte eine Inventurliste mit sämtlichen Besitzungen des Ordens. Er nahm alles nach Ägypten mit, was auf sein Schiff passte.
»Und unsere Brüder haben sich nicht verteidigt?«, entfuhr es Abel, eher erstaunt als verärgert. »Sie sind ein militärischer Orden, sie hätten …«
»Sie konnten nichts tun«, unterbrach ihn Bruder Dámaso. »Es ist den Ordensrittern verboten, die Waffen gegen andere Christen zu erheben. Ihnen blieb keine Wahl, als die Insel zu verlassen.«
Einige Monate, nachdem sie von Napoleons Einfall in Ägypten erfahren hatten, erschien Bruder Dámaso schweißüberströmt in der Druckerei. Er war den ganzen Weg von der Komturei gerannt.
»Post … Ich habe einen Brief bekommen. Gute … gute Nachrichten«, keuchte er und hielt sich die Brust, weil er kaum noch Luft bekam. »Wir müssen … wir müssen es so schnell wie möglich finden.«
»Was finden?«, fragte Abel, während er den Prior am Ellenbogen fasste und zu einem Stuhl im Patio führte.
»Das Buch. Der Kodex der
Siete Partidas
… Es gibt noch ein Exemplar.«
»Und wo?«
»In der Bibliothek des Escorial. Wir müssen nach Madrid!«
***
DIE VERBINDUNG MIT MADRID wurde durch Postkutschen gewährleistet, die zweimal wöchentlich die Sierra Morena durchquerten. Dabei liefen sie stets Gefahr, in den Hinterhalt von Straßenräubern zu geraten, die mit vorgehaltener Büchse oder gezücktem Messer die Wohlhabenderen davon überzeugten, ihnen ihre Habe zu überlassen. Die Reise nach Madrid kostete neuneinhalb Reales pro Kopf und dauerte fünf Tage, in denen nur angehalten wurde, um zu essen, zu schlafen und die Pferde zu wechseln. Die Kutschen fuhren mittwochs und samstags um elf Uhr abends auf der Plazuela de la Venera ab. Der genaue Ort wurde durch ein Schild mit der Aufschrift KUTSCHSTATION angezeigt. Es gab dort einen Holzunterstand, den die Bettler in Regennächten als Schlafplatz nutzten, bis der Nachtwächter kam, um sie fluchend mit einem Eimer kalten Wassers zu vertreiben.
Bruder Dámaso, Monsieur Verdoux und Abel erreichten den Escorial an einem Dienstag um die Mittagszeit. Seit ihrer Ankunft in
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