Der Turm der Könige
seinen hastigen Atem, und ihr Herz machte einen Satz. Er kam noch näher. Ihre Lippen trafen sich, und überwältigt von ihrer so lange zurückgehaltenen Leidenschaft, sanken sie zu Boden. Sie küssten sich die ganze Nacht hindurch, während sie wünschten, dass es niemals Morgen würde.
Für die Dauer dieses einen Sommers wurde die Höhle mit dem Feigenbaum zu ihrem Brautbett, bis die Wirklichkeit sie schließlich zwang, sich zu trennen.
Sie schwor ihm Liebe bis in den Tod. Er, der realistischer war und wusste, dass die sozialen Unterschiede über ihr Schicksal entscheiden würden, schwor ihr, dass ihr seine ganze Liebe gehöre, bis sie ihn nicht mehr liebe. Ventura Marqués kaufte ein Vorhängeschloss, und am Tag, bevor ihre Familie verkündete, dass sie nach Sevilla zurückmussten, schenkte er ihr einen der beiden Schlüssel. Den anderen behielt er.
»Ich werde dieses Schloss am Gitter der Kapelle von Cruz del Campo anbringen«, sagte er. »Wenn du dich im Laufe dieses Winters mit einem anderen verlobst, nimmst du es einfach ab. Dann weiß ich, dass es aus ist zwischen uns.«
»Ich habe nicht vor, einen anderen zu lieben als dich«, versicherte Guiomar entschlossen.
»Denk daran. Nimm das Schloss ab, wenn du mich nicht mehr liebst. Ich will nicht hier sein, wenn du nächsten Sommer wiederkommst und mit einem anderen verheiratet bist.«
Als die Familie Montenegro von
Las Jácaras
aufbrach, um wieder dem täglichen Leben in der Druckerei nachzugehen, weinte Guiomar in einem fort, ohne dass ihre Eltern, Candela oder Monsieur Verdoux den Grund ihres Kummers kannten. Als sie Cruz del Campo erreichten, lehnte sich das Mädchen aus dem Fenster der Kutsche. Guiomar wusste, dass Ventura ihnen den ganzen Weg gefolgt war. Sie sah, wie er das Schloss an der vereinbarten Stelle befestigte. Während sie davonfuhren, hob sie kurz ihre Hand und winkte ihm zu. Dann verharrte sie so lange am Fenster, bis seine Silhouette in der Ferne verschwunden war.
19 Krieg!
Der Mensch ist ein wankelmütiges Geschöpf und liebt vielleicht, ähnlich einem Schachspieler, nur den Prozess des Strebens nach dem Ziel, nicht das Ziel selbst.
FJODOR DOSTOJEWSKI
Z urück in Sevilla, zählte Guiomar die Monate, Wochen und Tage bis zum nächsten Sommer. Sehnsüchtig riss sie Blatt um Blatt vom Kalender ab. Ein Schwindel erfasste sie, wenn sie nur an den warmen Körper ihres Marquis dachte, und sie aß fast gar nichts mehr, bis sie nur noch ein Strich in der Landschaft war und dunkle Ränder unter den Augen hatte. Alle dachten, sie leide an einer schweren Krankheit. So beschloss man, einen Arzt zu konsultieren, der an den literarischen Zirkeln in der Druckerei teilnahm. Nachdem er sie untersucht hatte, diagnostizierte er einen schweren Vitaminmangel. Sie könne nur gesund werden, indem sie rohe Eier esse und alle drei Stunden einen Löffel mit aufgelösten Mineralsalzen zu sich nehme.
»Wenn Sie meine Anweisungen nicht genauestens befolgen, wird sie schwachsinnig werden«, erklärte er unter den entsetzten Blicken von Abel und Rosario.
Da Guiomar wusste, dass ihre Krankheit keine körperlichen Ursachen hatte, schluckte sie die rohen Eier und den Trank, um ihre Eltern zu beruhigen. Außerdem nahm sie sich vor, von nun an mehr zu essen, um keinen weiteren Verdacht zu erregen. Die Liebe hatte sie verändert. Sie fing wieder an, auf den Dachboden zu steigen, um dort ihren Gedanken nachzuhängen. Wenn es Nacht wurde und sie in ihrem dunklen Zimmer lag, kehrte die Erinnerung an ihre engumschlungenen Körper zurück, an seinen warmen Atem und an die Liebesschwüre, die sie sich gegeben hatten.
Anstatt sich abzuschwächen, wurden Guiomars Gefühle jedoch über den Herbst und Winter immer stärker. Zweimal ging sie mit klopfendem Herzen zur Kapelle von Cruz de Campo, voller Angst, Ventura könne das Schloss entfernt haben. Als sie das kleine Stück Metall, auf dem ihre ganze Hoffnung ruhte, an den Gitterstäben hängen sah, atmete sie erleichtert auf und kehrte glücklich nach Hause zurück, als habe Ventura selbst ihr zugeflüstert, dass er sie immer noch liebte.
Doch ihr blieb keine Zeit, noch länger von einem Wiedersehen im Sommer zu träumen, denn die politische Lage im Land durchkreuzte die Pläne der Familie. Godoy hatte im Herbst den Vertrag von Fontainebleau unterzeichnet, in dem der spanische König den französischen Truppen den Durchmarsch durch Spanien gewährte, um Krieg gegen Portugal zu führen. Napoleon hatte den Handel mit englischen
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