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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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schlimmen Entscheidungen hatte – zu sterben oder zu töten. Erinnerungen aus der Vergangenheit kehrten schlagartig zurück, so lebendig, als wäre es erst gestern gewesen. Das Rauschen des Meeres, die schreckliche Erkenntnis, dass das Festland weit weg war. Der salzige Geschmack der See im Mund, vermischt mit dem Geschmack von Blut, die Verzweiflung, die Atemnot. Eine unermesslich große Angst, die sichere Erkenntnis, wozu manche Menschen fähig waren, um ihre Ziele zu erreichen. León wusste, dass der Tapfere Angst vor seinem Feind hat, der Feige hingegen Angst vor seiner eigenen Angst.
    Namenlose Sevillaner gingen vorüber, in ihre alltäglichen Beschäftigungen vertieft. Unbedarfte, einfache, naive Dummköpfe. Sie kamen ihm entgegen, gingen rechts und links an ihm vorbei, streiften ihn gelegentlich. Doch León bemerkte nur die unheilvolle Präsenz der Person, die ihn heimlich beobachtete. Die Brüder hatten ihn gewarnt, dass sein Leben womöglich in Gefahr sei, doch bis zu diesem Augenblick hatte er ihre Warnungen als unbegründete Schwarzseherei betrachtet.
    Er blieb stehen und verharrte einen Moment unbewegt, bevor er sich umblickte. Ein paar Leute sahen ihn neugierig an. León ging weiter, verlangsamte jedoch seine Schritte. Er war schon fast am Ziel, doch er hörte auf seinen Verstand, änderte die Richtung und schlüpfte in die Calle del Hombre de Piedra, die um diese Tageszeit menschenleer war. Er vernahm leise Schritte hinter sich, wie von einer lauernden Katze. Er konnte den Schatten erahnen, der immer länger wurde und ihn beinahe erwischte. Sein Mund war trocken, das Blut pochte in seinen Schläfen. Die Angst wich dem Schock, entdeckt worden zu sein. Als er vor dem Bildnis des versteinerten Mannes stand, das der Straße ihren Namen gab, drehte León sich ruckartig um, und da sah er ihn. Er war sehr jung, dunkelhaarig, groß, schlank. Eine störrische Haarsträhne fiel ihm in die braunen Augen, die hinter einer Brille hervorblinzelten.
    »Weshalb verfolgen Sie mich?«, herrschte León ihn an und ging mit geballten Fäusten auf ihn zu.
    Der Junge zuckte zusammen. Mit erstarrtem Gesicht hob er langsam beschwichtigend die Hände. León sah, dass er ein Holzkästchen um den Hals hängen hatte, wie sie die Schreiber benutzten, um Federn und Tinte darin aufzubewahren.
    »Verzeihen Sie, Herr, ich … ich …«, stotterte er verängstigt.
    León betrachtete seine Hände. Sie waren schlank, feingliedrig, mit gepflegten Nägeln und Tintenflecken auf den Handinnenflächen. Sie sahen nicht wie die Hände eines Mörders aus.
    »Wer sind Sie? Was wollen Sie?«
    »Ich … ich … Mein Name ist Fernando Álvarez … und ich suche Arbeit«, stammelte er. »Ich weiß, dass Sie in der Druckerei der Witwe de Haro arbeiten, und ich wünsche mir schon lange, dass man dort meine Dienste in Anspruch nähme. Ich dachte, Sie wären vielleicht so freundlich, ein gutes Wort für mich einzulegen. Ich verlange nicht viel. Ein paar kleine Aufträge, Besprechungen für ein Flugblatt, Briefe, Chroniken … Wenn ich regelmäßig für die Druckerei arbeiten würde, müsste ich nicht länger auf der Straße stehen, im Winter frieren und im Sommer schwitzen und meinen Tisch unter den Kolonnaden der Kathedrale aufstellen.« Der Schreiber schien mit jedem Wort ruhiger zu werden. Er ließ die Hände sinken. Der Schreck wich aus seinen Augen und machte einem Ausdruck Platz, den León für Zufriedenheit hielt. »Jetzt muss ich mir die Straßenecke mit Fischhändlern und Obstverkäufern teilen und ihr Feilschen und Schreien ertragen. Für die Druckerei der Witwe de Haro zu arbeiten würde meine Zukunft sichern, jetzt, da ich kurz davor stehe, mich zu vermählen«, schloss er.
    »Sie sind mir gefolgt, weil Sie Arbeit suchen?« León schien überrascht.
    Sein halbes Leben hatte er in der Überzeugung verbracht, dass hinter jeder Ecke Feinde lauerten, und den Tag gefürchtet, da seine Vorsicht nicht ausreichen würde, um einem Angriff zu entgehen. Er begann zu lachen und schüttelte mit gesenktem Blick den Kopf.
    »Wenn Sie so freundlich wären, ein gutes Wort für mich einzulegen …«, wiederholte der Junge.
    »Sie werden verstehen, dass ich mich nicht für Sie einsetzen kann, ohne mich vorher zu vergewissern, dass das, was Sie machen, wirklich gut ist. Sie wollen in Kürze heiraten, sagten Sie?«
    »Ja … also, ich werde …«
    »Das genügt mir«, unterbrach ihn León. »Ich werde Sie auf die Probe stellen. Ich möchte, dass Sie

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