Der Turm der Könige
aus diesem elenden Loch zu fliehen, in dem sie jahrelang zusammengepfercht gewesen waren. Einer der berühmtesten Ausbrecher war der »Fürst von Modena«, ein ausländischer Stutzer, der mit Glanz und Gloria in die Stadt gekommen war und sich in der Posada de la Reina einquartiert hatte, wobei er überall herumposaunte, von welch vornehmer Herkunft er sei. Täglich fuhr er in einer Kutsche, die ihm der Bürgermeister persönlich zur Verfügung stellte, zur Messe in San Pablo, und die Dominikanermönche empfingen und verabschiedeten ihn mit Glockengeläut und Bücklingen.
Die feine sevillanische Gesellschaft wollte sich damit brüsten, eine Persönlichkeit seines Ranges zu ihren Freunden zu zählen, und umwarb ihn mit rauschenden Festen und Abendgesellschaften, die sich bis Mitternacht hinzogen, mit gefülltem Spanferkel und Datteln in Honig. Eltern präsentierten ihm ihre heiratsfähigen Töchter, weil sie darauf brannten, Teil dieser hochherrschaftlichen Welt zu werden, überzeugt, dass adlige Fürze nach Jasmin dufteten und ihren Namen die höchsten Weihen beschieden wären. Er allerdings ging nie eine Verpflichtung ein und ließ sich über Monate mit höchstem diplomatischem Geschick aushalten.
Nach einem halben Jahr voller Empfänge und Schmeicheleien kam durch puren Zufall heraus, dass der Fürst von Modena ein Hochstapler war. Der Adel seines Vaters reichte zu nicht mehr als einem Leben als trinksüchtiger Krämer, und jemand, der sich in Geographie und Geschichte auskannte, setzte alle darüber in Kenntnis, dass Modena für seinen Balsamico-Essig berühmt sei, nicht für seine Fürstenfamilie. Obwohl man dem falschen Fürsten nur Anmaßung von Adelswürden vorwerfen konnte, wurde er ohne viel Federlesens ins Gefängnis geworfen, denn die feine Gesellschaft der Stadt zum Narren gehalten zu haben wurde als schlimmer angesehen, als einem hungrigen Kind ein Stück Brot zu stehlen. Seit dem Tag des Erdbebens hatte man nichts mehr von ihm gehört.
León ging durch die Calle de Sierpes und ließ sich von der kühlen Morgenluft den Kopf freipusten. Er strich über das goldene Kreuz mit den acht Enden, das er um den Hals trug. Der Großmeister hatte es ihm überreicht, als er ihn nach Sevilla entsandte. Sein – Leóns – Leben schien von einem wankelmütigen Gott gelenkt zu werden, der sich selbst widersprach und ständig neue Entscheidungen über sein Schicksal fällte. León hatte ein gutes Gedächtnis, und so erinnerte er sich genau an seine Kindheit auf der Insel Malta in der Obhut der Johanniter.
Die Mönchsritter hatten ihm von seiner geheimnisvollen Herkunft erzählt: Am Namenstag Leos des Großen hatten sie ihn als Säugling vor dem Tor ihrer Festung gefunden. Er lag in einem Weidenkörbchen, eingewickelt in einen Chormantel, der mit eben diesem Kreuz mit den acht Enden bestickt war. Es war seit 1048 das Symbol des Johanniterordens. Damals hatten einige Händler aus Amalfi vom Kalifen von Ägypten die Erlaubnis erhalten, in Jerusalem ein Spital zu errichten und sich dort um die Pilger zu kümmern, die ins Heilige Land kamen, welchen Glaubens oder welcher Herkunft sie auch sein mochten. Das Kreuz hatte vier gleich lange Arme, die in acht Spitzen oder Kugeln ausliefen. Nur die Ordensritter trugen dieses Kreuz auf ihrer Kleidung. Wenn einer von ihnen eine Affäre mit einem Mädchen von der Insel gehabt hatte und dieses Kind von ihm war, würde das natürlich niemand zugeben.
Die Johanniter ernährten ihn mit in Milch getunkten Brotkrumen und sangen ihn bei den Messen mit gregorianischen Gesängen in den Schlaf. Sie brachten ihm das Schachspielen bei und lehrten ihn Lesen und Schreiben – in Latein, damit er die Bibel verstehen konnte, in Italienisch, damit er die Menschen auf der Insel verstand, und in Spanisch, weil Kaiser Karl V. dem Orden die Inseln Malta und Gozo als Lehen übergeben, nicht aber auf sein Hoheitsrecht verzichtet hatte. Er hatte eine friedliche Kindheit und war überzeugt, dass er auch den Rest seines Lebens damit verbringen würde, Gott zu preisen und unter dem Namen Bruder León das Christentum zu verteidigen.
Doch mit fünfzehn Jahren geriet sein Leben aus den Fugen. Die gefürchteten Janitscharen, die Elitetruppe des osmanischen Sultans, unternahmen eine ihrer Jagden auf christliche Jungen, die sie
devşirme
nannten: Knabenlese. Ihre Taktik bestand darin, in Landnähe durch das Mittelmeer zu segeln und aufmerksam die Küste abzusuchen, um kräftige, für den Kampf geeignete
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