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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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Knaben ausfindig zu machen. Sie fingen León am späten Nachmittag am Strand. Er durfte eigentlich nicht dort sein, aber er hatte sich davongestohlen, um Muscheln zu sammeln. Er mochte es, die Spur der Bläschen zu verfolgen, die sie hinterließen, wenn sich eine Welle zurückzog, um sie dann auszugraben und dem Koch einen Beutel voll zu bringen, damit er sie mit Weißwein, Knoblauch und Petersilie zum Abendessen kochen konnte. Er war so mit Sammeln beschäftigt, dass er die Fremden nicht kommen sah. Als er sich seiner Lage bewusst wurde, lag er an Händen und Füßen gefesselt im dunklen Laderaum eines Schiffes und hörte Stimmen in einer unbekannten Sprache.
    Mit diesem Tag veränderte sich sein Leben. Die Janitscharen steckten ihn in eine Schule, wo sie ihn im Gebrauch von Waffen, Kriegstaktik, Schach, Literatur und Rechnen unterrichteten. Sie ermunterten ihn, zum Islam überzutreten – niemand übte Zwang aus, aber alles würde einfacher werden, wenn er es tat. Eine Zeitlang schien er sich gut in die fremde Religion einzufinden, die die Verehrung eines einzigen Gottes über alles stellte, den Nächsten achtete, Verbrechen und Grausamkeit verurteilte und gute Taten vergalt. Diese Religion erschien ihm nicht sehr viel anders als seine eigene. Er ließ sich lediglich einen Schnurrbart stehen, weil das Tragen eines Vollbartes verboten war, und schwor, dass die Janitschareneinheit seine Heimat sei und der Sultan sein wahrer irdischer Vater. Er wurde so stark und seine Überzeugung schien so gefestigt zu sein, dass er nach der Ausbildung mit neunzehn Jahren zum echten Janitscharen ernannt wurde.
    Kurze Zeit später, als die Vorgesetzten ihm endlich vertrauten und ihre ständige Achtsamkeit nachließ, ergriff er die Flucht, die er über Jahre geplant hatte. Er wartete, bis es Nacht war, und entwendete dann einen Schoner aus dem Hafen. Er hatte ihn ausgewählt, weil das Schiff stabil genug war, um den Wellen von tausend Stürmen standzuhalten, und leicht genug, dass er es allein manövrieren konnte. Zwei Tage segelte er, lebte von rohem Fisch, den er fing, und schlief kaum, da er fürchtete, dass jeden Augenblick ein türkisches Schiff am Horizont auftauchen könnte, dessen Besatzung darauf brannte, dem Verräter den Kopf abzuhauen. Als er bereits kein Trinkwasser mehr hatte, entdeckte eine Fregatte das umhertreibende Schiff. Er lag mit nacktem Oberkörper bewusstlos an Deck, die Lippen von der Hitze aufgesprungen, und delirierte auf Latein, dass man ihn zu seinen Brüdern auf der Insel Malta zurückbringen solle.
    Nun, da er in Sicherheit war und durch die Straßen Sevillas spazierte, dachte er, dass sein Schicksal ebenso unstet war wie die Meeresströmungen. Noch ein Jahr zuvor hätte er geschworen, dass es seine Lebensaufgabe war, jenen Auftrag zu erfüllen, den er sich gestellt hatte, seit er bei den Türken vom Pakt des Axataf gehört hatte – jenes Mannes, der Sevilla an Ferdinand  III . verloren hatte. Dies war nach wie vor sein Ziel, und doch wusste er in diesem Augenblick auch, dass er ohne Julia nicht mehr leben konnte.
    León ging noch eine ganze Weile weiter. Er schob die Hand in die Hosentasche und spürte die sanfte Berührung der elfenbeinernen Figur, die er stets bei sich trug. Er war nun in der Nähe des Flusses, er konnte ihn riechen. Allmählich erwachte die Stadt, und Menschen bevölkerten die Straßen. Er begegnete einigen Bettlern, die ihn bei der Liebe Gottes um ein kleines Almosen baten. Sie trugen die Einheitskleidung der Bedürftigen: einen Kittel aus dunklem Stoff mit einem roten Herzen auf der Brust. Die Besitzer der Marktstände beeilten sich, einen guten Platz auf den Stufen der Kathedrale zu finden, denn davon hingen ihre Tageseinnahmen ab. Die Angestellten der Tabakfabrik gähnten im Halbschlaf und rieben sich den Schlaf aus den Augen. Er begegnete ein paar Schreibern, die ihre Tischchen vor der Giralda aufstellten, um dort ihrem Beruf nachzugehen, der darin bestand, Briefe für andere zu verfassen, Verträge, Schriftstücke, alle möglichen Dokumente. Aber trotz des zunehmenden Treibens bemerkte León, während er auf seinem Weg den Passanten auswich, dass er verfolgt wurde.
    So viele Jahre in Angst hatten ihm eine erstaunliche Fähigkeit verliehen, Gefahren zu erkennen. Er spitzte die Ohren, und jeder einzelne Muskel seines Körpers spannte sich an. Erneut befiel ihn dieses schreckliche Gefühl, das er schon vergessen zu haben glaubte: die Ahnung, dass er die Wahl zwischen zwei

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