Der Turm der Könige
hölzerne Gliederpuppe handelte, die dem Anlass entsprechend gekleidet werden konnte, und dass nur die sichtbaren Teile bunt bemalt waren, das Gesicht und die Hände.
»Schauen wir unter dem Gewand nach«, schlug León vor.
»Heiligste Muttergottes!« Bruder Dámaso bekreuzigte sich.
Sie lupften den goldenen Umhang, das gelb und silbern bestickte Damastkleid, die Spitzenunterwäsche … Sie entdeckten den Mechanismus, mit dem man die Figur bewegen konnte. Aber auch hier fanden sie nichts. Ihre Hoffnungen schwanden dahin. Vielleicht hatten die Mitglieder des Krak des Chevaliers recht, die behaupteten, Kd2++ sei lediglich ein Steinmetzzeichen und kein Schachzug, wie León es vermutete. Möglicherweise enthielt der runde Stein, den seine Frau am Tag des Erdbebens gefunden hatte und der nun im Patio der Druckerei hing, gar keine Botschaft. Vielleicht handelte es sich nicht einmal um den Schlussstein, den Don Manuel López de Haro zu Beginn des 16. Jahrhunderts in die Vierung der Kathedrale eingesetzt hatte.
León sah erneut zum Grab des heiligen Königs. Dort befand sich das Epitaph, das sein Sohn Alfons X. in vier Sprachen hatte anbringen lassen: in Kastilisch, Arabisch, Lateinisch und Hebräisch. Ferdinand der Heilige, jener König, dem der muslimische Historiker al-Himyari ein mildes Wesen und ein bewundernswertes politisches Gespür bescheinigte. Der Regent, der seinen Sieg nicht auskostete und bei der Kapitulation von Sevilla festhielt, dass er die Mohammedaner schützen wolle, welche die Stadt verließen. Ferdinand der Heilige, König der drei Kulturen, König der drei Religionen …
León war furchtbar enttäuscht. Wenn sich die Spielregeln hier nicht befanden, hatte er keine Ahnung, wo er weiter suchen sollte. Und er hatte jetzt Familie, eine Frau und einen kleinen Sohn, die ihn brauchten. Vielleicht, so sagte er sich, war der Augenblick gekommen, die Suche nach dieser Chimäre, nach diesem Hirngespinst aufzugeben, nach lange zurückliegenden Ehrenhändeln zwischen Königen und Drohungen, die bislang nicht wahr geworden waren.
Vielleicht, schloss er traurig, war der Augenblick gekommen, den elfenbeinernen Elefanten und das, wofür er stand, für immer zu vergessen.
6 Der Sohn des Piraten
Jeder Bauer ist eine potentielle Dame.
JAMES MASON
D ie Wochen vergingen, der Winter wich dem Frühling, und der Innenhof der Druckerei verwandelte sich in ein Blütenmeer. Die Blumen in den vielen Töpfen zauberten rote, gelbe und violette Tupfen auf die weißen Wände. Die Stieglitze in den Vogelbauern waren wie von Sinnen und suchten nach einer Möglichkeit, davonzuflattern, und Mamita Lula war am Jammern, weil sie in einem fort niesen musste, ihre Augen tränten und ihre Nase lief. Julia hingegen war so glücklich in ihrem neuen Leben, dass nichts ihrer guten Laune etwas anhaben konnte – weder die Ameisenplage in der Speisekammer, wo sich das Ungeziefer alljährlich in Heerscharen über das Mehl hermachte, in die Honigtöpfe krabbelte und diesen in einen braunen, mit schwarzen Pünktchen gesprenkelten Kleister verwandelte, noch die zunehmende Nachmittagshitze, die sich weder mit kühler Limonade noch mit Fächern vertreiben ließ.
Deshalb nahm sie Cristóbals stumme Verbitterung gar nicht wahr, seine schroffe Art gegenüber den Angestellten, seine ungnädigen Blicke. Der Werkstattmeister fühlte sich wie ein Statist in einem Bühnenstück, das nicht seines war. Er empfand die ständige Anwesenheit des kleinen Abel als Prüfung, die das Leben ihm auferlegte und die er so würdevoll wie möglich zu ertragen versuchte. Sein einziger Trost war es, sich ganz und gar Doña Julias Weisungen zu fügen. Sie erschien ihm nach wie vor unerreichbar in ihrer gelassenen Sittsamkeit, ihrem untadeligen, damenhaften Benehmen, ihrer stets makellosen Kleidung, dem zarten Duft nach Amber, den er tief einsog, wenn sie in der Nähe war. Deshalb wollte er nicht wahrhaben, dass Abel die Frucht ihres Leibes war. Er ertrug den Gedanken nicht, dass dieses Kind der lebende Beweis für seinen gescheiterten Versuch war, die Frau seiner Träume für sich zu gewinnen. Dem Jungen war es verboten, die Druckerei zu betreten, aber er setzte sich immer wieder über diese Regel hinweg, ohne dass sich jemand daran störte. Cristóbal tat so, als sähe er ihn nicht, als gäbe es ihn gar nicht. Doch am ersten Geburtstag des Kindes brach seine ganze Haltung in sich zusammen.
Zwei Wochen dauerten die Vorbereitungen für das Fest. Ein Sonnensegel
Weitere Kostenlose Bücher