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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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Mutter fiel, sich um ihr Kind zu kümmern. Mamita Lula überschüttete ihn mit Liebe. Sie zog ihm am Morgen die Decke weg, um ihn dann wieder zuzudecken und durchzukitzeln. Sie machte ihm das Frühstück, rührte die Milch, damit sich keine Haut bildete, zog ihn an, putzte ihm die Nase, wischte ihm mit einem Taschentuch, das sie stets im Ärmel trug und das sie zuvor mit Spucke anfeuchtete, über das schmutzige Gesicht und hob ihn auf, wenn er hinfiel, ohne dass ihre fünfzig Jahre oder ihr gewaltiges Hinterteil sie in ihrer Beweglichkeit einzuschränken schienen.
    Mamita Lula sah sich auch dafür verantwortlich, Abel im christlichen Glauben zu erziehen. Seine Eltern waren zu sehr mit den täglichen Angelegenheiten beschäftigt, um sich darum zu kümmern, dem Kind Gott nahezubringen. Sie brachte ihm das Vaterunser, das Ave Maria und die Zehn Gebote bei und ging regelmäßig mit ihm in die Kathedrale, damit er das Leben des Herrn genauso kennenlernte wie ehemals sie, indem er die Kirchenfenster betrachtete, die Skulpturen in den Tympana, an den Portalen und Altären. Sie hob ihn hoch, damit er die Jungfrau auf dem Thron küssen konnte, und hielt ihn dazu an, mit gefalteten Händen vor dem Hauptaltar niederzuknien.
    »Gott hört dir zu«, sagte sie dann zu ihm. »Du kannst ihm alles erzählen.«
    In dieser Haltung verharrte das Kind lange und nahm in seinem Inneren die Mystik auf, die der Geruch des Weihrauchs und der brennenden Kerzen, vermischt mit den gemurmelten Gebeten von Mamita Lula, in ihm hervorrief. Abel bewegte die ausgezehrte Christusgestalt, die ihn von dem Altarbild herunter anblickte, zutiefst. Selbst auf diese Distanz konnte er hinter dem Leiden und dem zur Seite geneigten Kopf mit den langen, lockigen Haaren die weichen Züge wahrnehmen.
    »Er ist sehr traurig. Er stirbt«, sagte der Junge.
    »Ach was!«, antwortete die Dienerin. »Er hat den Kopf geneigt, damit er uns hier unten hört. Daher kommt auch der Name. Man nennt ihn den Christus der Million, weil er eine Million Wunder bewirkt«, behauptete sie.
    Abel hörte Mamita Lula begeistert zu und blickte bewundernd zu ihr auf. Ihr tiefschwarzes Gesicht strahlte, während sie Abel weiter ihre Geschichten erzählte. Dabei war ihm nicht einmal bewusst, dass Mamita Lula und er eine unterschiedliche Hautfarbe hatten. Er merkte es erst, als ein Junge in der Schule verächtlich zu ihm sagte, dass seine Dienerin eine Negerin sei. In dem Moment gab er nicht viel darauf, doch mit den Jahren lernte er, dass die Hautfarbe eines Menschen in großem Maße sein Schicksal bestimmte.
    ***
    UNTERDESSEN HEIRATETE CRISTÓBAL die Tochter des Flusswächters, Consuelito Alcántara. Dennoch setzte er sich weiterhin mit Leib und Seele für die Druckerei ein. Er schenkte seiner schüchternen Frau keine große Beachtung und machte sich auch nicht viel aus dem Kind, das sie ihm bereits geschenkt hatte, noch aus jenem, das unterwegs war. Deshalb störte es ihn, dass Doña Julia Consuelito regelmäßig zur Schokolade in den Patio der Druckerei einlud, dass sie seinem Kind Geschenke machte und sich nach dem Fortschritt der Schwangerschaft erkundigte.
    Er sah darin eine Art von Mitleid, das ihn jäh aus diesem Gefühl von Verbundenheit riss, das er Doña Julia gegenüber hatte. Julias Aufmerksamkeit gegenüber seiner Familie gab ihm das Gefühl, ihr unterlegen, ihr etwas schuldig zu sein. Er betrachtete die Geschenke als Barmherzigkeit, die Liebkosungen seines Kindes als Mitleid, die Teestunden mit Consuelito als freundliche Herablassung. Er, Cristóbal Zapata, der Werkstattmeister, der so nah daran gewesen war, der Hausherr zu werden, tauchte erst wieder aus seinem tranceähnlichen Zustand auf, als seine Frau bei der Geburt eines Mädchens starb. Julia war so erschüttert, dass sie zum ersten Mal ihre kühle Gleichgültigkeit ablegte, um ihn zu trösten.
    »Cristóbal, ich glaube, es wäre das Beste, wenn Sie zu Ihren Schwiegereltern zögen«, sagte sie. Er schwieg. »Ich habe schon mit ihnen gesprochen, und sie sind einverstanden. Vor allem der Kinder wegen … Sie sind noch so klein, und Sie können nicht mit ihnen alleine bleiben … Bei der vielen Zeit, die Sie hier verbringen!«
    Cristóbal nahm das Angebot seiner Herrin an, den Wagen der Druckerei für den Umzug zu benutzen. Er akzeptierte die mitfühlenden Gesten seiner Chefin und auch Doña Julias Versprechen, die Patin seiner neugeborenen Tochter zu werden. Immerhin würde er auf diese Weise zur Familie gehören, auch

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